Jens Voigt kann es einfach nicht lassen. Auch bei seiner 15. Tour de France rackert der 40-Jährige, als wäre er in einen Jungbrunnen gefallen.

La Toussuire. 805.000 Kilometer, 3100 kg Pasta, 100 Stürze: Die unglaublichen Zahlen aus 15 oft qualvollen Jahren als Radprofi hat Jens Voigt täglich im Blick. Auf dem Rahmen seines Rennrades sind sie zu lesen - samt seinem Motto „Shut up, legs!“, was am besten mit „Klappe halten, Beine!“ zu übersetzen ist. Es ist eine Spezialanfertigung seines Ausrüsters, die auch eine Hommage ist an den Kämpfer, den Unzerstörbaren, den „alten Hund“ Jens Voigt, der sich trotz seiner bald 41 Jahre auf der 10. Etappe der Tour de France am Mittwoch fast den Etappensieg gesichert hätte.

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Mit einer für ihn typischen Energieleistung hatte sich Voigt auf den letzten Kilometern nach Bellegard-sur-Valserine an ein Spitzenquartett herangekämpft, musste sich im Schlusssprint unter dem Jubel Tausender Franzosen aber dem Volkshelden Thomas Voeckler geschlagen geben.

Doch wäre es nicht Voeckler gewesen, der sich mit Voigt um den Sieg gestritten hätte, die Zuschauer am Streckenrand hätten „The Jensie“ angefeuert. Seine Leidensfähigkeit, sein Einsatz, sein unbedingter Wille haben Voigt bei den Fans zu einem der beliebtesten, im Peloton zu einem angesehensten Fahrer gemacht.

Voigt ist Kult. Auf der Internetseite www.jensvoigtfacts.com wird ihm in bester Chuck-Norris-Manier gehuldigt. „Wäre Jens Voigt ein Planet, er wäre der Planet des Schmerzes“, heißt es dort. Voigt sei der erste Radfahrer, der die Welt umrundet habe. „Seit diesem Tag dreht sie sich.“ Oder: „Jens Voigt isst Stahl zum Frühstück, Feuer zum Mittag und eine Mischung aus Titan- und Carbonfaser zum Abend. Als Zwischenmahlzeit gibt es menschliche Seelen, die er mit einem Glas menschlichen Leides runterspült.“

Es ist eine etwas martialische Umschreibung des sechsfachen Vaters, der in seiner Wahlheimat Berlin Kinobesuche mit seiner Frau und dem Nachwuchs sowie die ausgiebigen Spaziergänge mit Hündin Linda liebt. Spaßvogel Voigt kann dennoch darüber lachen.

Auch als „Elvis der Fluchtgruppen“ hat man Voigt bereits ehrfürchtig betitelt. Eine Legende, nicht totzukriegen. Seine zwei Tour-Etappensiege 2001 und 2006 fuhr Voigt als Teil einer Ausreißergruppe heraus. Am Mittwoch scheiterte er nur knapp am dritten. „Ich dachte mir, dass ich dem Namen mal wieder gerecht werden und zeigen muss, dass ich noch nicht tot bin“, sagte Voigt.

Doch dazu hatte er in den vergangenen Jahren immer seltener die Möglichkeit. Seine Unzerstörbarkeit stellte der gebürtige Grevesmühlener in den Dienst seiner Kapitäne, fuhr wie ein Wilder in die steilsten Anhänge, um die Konkurrenz zu schwächen. Am „verteilenden Ende des Schmerzes stehen“ nennt Voigt diese Rennphasen: „Das macht schon ein bisschen Spaß.“ Da in Voigts Team RadioShack-Nissan bei der Tour 2012 jedoch der Siegkandidat fehlt, konnte er nun wieder auf eigene Rechnung fahren.

„Die Beine sagten immer wieder: Lass mich in Ruhe, wir können nicht mehr. Darauf antwortete ich dann: Nein, nein, nein, ihr müsst schon noch ein bisschen weitermachen“, sagte Voigt nach seinem jüngsten Höllenritt. Shut up legs, also.

Auch sein Alter ist für Voigt eine enorme Motivation. „Ich bin nicht zu alt, ich bin nicht zu alt“, sagte sich Voigt, Jahrgang 1971, als er sich in die letzten Kilometer stürzte. Ob es für den ältesten Fahrer im Profi-Zirkus auch die letzte Tour ist, steht derzeit noch nicht fest. „Da muss man abwarten, aber im Moment wäre ich bekloppt genug, noch ein Jahr dranzuhängen“, sagte Voigt.

Seine Beine werden sich wohl auf weitere Diskussionen einstellen müssen.