Reisen bietet die Chance, Menschen zu sammeln und ihre persönlichsten Geschichten kennen zu lernen - ob man will oder nicht.

Der interessanteste Abend ist immer der erste. Wenn die Reisegruppe zusammensitzt und die Teilnehmer sich vorstellen: Aus welcher Ecke, geografisch gesehen? Mit welcher Motivation, hier und heute? Und in welchem Beruf, bitte schön? Der Sonnenbankverwöhnte mit dem Goldkettchen arbeitet also in der Logistik. Das Ehepaar aus Mainz legt einen publikumswirksamen "Ein Herz und eine Seele"-Auftritt hin. Die Rotgelockte zischt ordentlich was weg. Und die Steuerberaterin aus Offenbach in ihren nagelneuen Outdoorklamotten scheint wahrhaftig eine mürrische Fachidiotin zu sein. Das also sind sie: die Frauen und Männer, mit denen man die nächsten zwei Wochen seines Lebens genießen darf oder aushalten muss. Zehn menschliche Rätsel, die es nach und nach zu lösen gilt.

Reisen bietet die Chance, Menschen zu sammeln: Werkzeugmacher, Staatsanwältinnen, Angler, Hebammen, Filmfreaks. Und ganz nebenbei Neues zu erfahren aus Winkeln der Gesellschaft, die weitab liegen von den eigenen: Was gehört in eine gute Zungenwurst? Warum schickt man kriminelle Jugendliche nach Peru? Wo findet ein Bühnenbildner seine Ideen? Und wie lebt es sich eigentlich in Herzogenaurach?

Dazu dann das Private. Wo erst nur ein Umriss war, eine konturlose Oberfläche, entblättert sich im Laufe der Tage Schicht um Schicht. Die Steuerberaterin liebt lateinamerikanische Literatur. Der Goldbekettete ist Briefträger im Hunsrück und pflückt Ableger für seinen Steingarten. Ehepaar Schneider hat seine Konditorei der Tochter übergeben und gönnt sich jetzt zweite Flitterwochen. Die rote Hamburgerin Hanna kommt regelmäßig zu spät, vergöttert ihren iPod und interessiert sich weder für T. C. Boyle, die Winkelzüge deutscher Banker noch die Fischerei in Norwegen - noch erkennbar für sonst irgendetwas.

Bittersüße, undurchsichtige, aufregende und überflüssige Geschichten lernt man kennen. So viele zerbrochene Lieben, die zu beklagen, Bierdeckelsammlungen, die zu würdigen, Kinderkarrieren, die zu bewundern sind. Am Ende bleiben kaum Fragen offen - von denen, die einen interessieren. Der Briefträger aus dem Hunsrück bastelt gern an seiner Isetta. Die Schneiders sind immer noch vernarrt ineinander wie am ersten Tag. Die Steuerberaterin sammelt Orthografien, kennt sieben Arten, Kutteln zu kochen, und lässt ihren behinderten Bruder, um den sie sich kümmert, nur diese zwei Wochen im Jahr allein. Und die schöne Hanna darf weiterhin rätselhaft vor sich hin lächeln.