Reisen durch Indien bringen jede Menge neue Erfahrungen. Auf dem Subkontinent auf den letzten Drücker am Bahnhof eintreffen ist eine besonders schlechte Idee.

Reisen durch Indien bringen jede Menge neue Erfahrungen. Und sie bestätigen althergebrachte: Denn auch auf dem Subkontinent sollte man nicht auf den letzten Drücker am Bahnhof eintreffen. Der Abendzug von Agra nach Delhi war ausgebucht. Zumindest die Touristenklasse. Klimaanlage und Polstersitz ade. Also schnell rüber zum Schalter für die Standardklasse, unter Asienreisenden auch Holzklasse genannt. Die Menschenmenge vorm Schalter ließ meine Kinnlade erst recht runterklappen. Doch Hilfe nahte in Sekundenschnelle - lautstark und körperbetont. Ungefähr ein Dutzend Gelegenheitstaxifahrer, die auf Fälle wie mich spezialisiert zu sein scheinen, stellten sich mir in den Weg: "Good price, Mister!" "Safe car, Mister!"

Ich entschied mich für Rahul - weil er sich vergleichsweise passiv als mein Fahrer aufdrängte. Im Fußball würde man sein Bemühen als "kontrollierte Offensive" bezeichnen. Rahul, ein ungewöhnlich hoch gewachsener Endvierziger, wollte 40 Dollar für die Fahrt nach Delhi. Nicht unbedingt billig, aber um dem Gedränge in der stickigen Luft des Bahnhofs zu entkommen, war mir inzwischen jedes Mittel recht.

Rahuls weißer Kleinwagen machte einen fahrbereiten Eindruck. Durch die Scheiben betrachtet, wirkte das bizarre Gewimmel in Agra, dem Hauptverkehrsknoten für Taj-Mahal-Gucker, augenblicklich nur noch halb so wild. Zu meiner Verblüffung stellte sich heraus, dass Rahul ein überaus passables Deutsch sprach. Ob er denn jemals in Deutschland gelebt habe? Nein, er sei noch nie in Deutschland gewesen. Er habe die Sprache auf der Universität gelernt und dann jahrelang als Reiseleiter für deutsche Reisegruppen gearbeitet. Er lese viel deutsche Literatur. Nächstes Jahr wolle er endlich mal nach Deutschland reisen.

Rahul schmiss den Wagen an. Mit schnurrendem Motor rollten wir aus Agra raus, Richtung Delhi. Vorbei an Mathura, über Vrindavan. Hier passierte das Malheur. Nach einem kurzen Zwischenstopp verweigerte das Auto seine Arbeit. "Die Kupplung", ächzte Rahul. Nervös zückte er sein Handy und fragte sich telefonisch durch die halbe Verwandtschaft. Endlich erreichte er einen Cousin, der einen Mechaniker in der Nähe kannte. Nach fast einer Stunde, es war längst stockfinster, knatterte ein dürrer Typ auf einem Motorroller heran. Sein löchriger, ölverschmierter Blaumann und die Schraubenschlüssel in den Hosentaschen wiesen ihn als Experten aus. Während er an dem Auto rumschraubte, hüpfte Rahul von einem Bein aufs andere. Ständig blickte er dabei auf die Uhr.

Als wir endlich wieder im Auto saßen, war es bereits kurz vor Mitternacht. Auf dem Highway nach Delhi herrschte dichter Verkehr. Rahul drückte ordentlich auf die Tube. Um nicht zu sagen: Er raste. Nachdem wir die x-te Rikscha nur um Haaresbreite geschnitten hatten, fragte ich ihn nach dem Grund seiner Eile. Er müsse schnell aus Uttar Pradesh raus, den Bundesstaat, den wir gerade auf dem Highway durchquerten. Denn er habe nur für einen Tag Kfz-Maut bezahlt. Die wird in Indien für Fahrten in andere Bundesstaaten fällig. Wenn er nach Mitternacht die Grenze passieren würde, müsse er womöglich eine horrende Strafe zahlen.

Das erklärte die Raserei, beruhigte aber nicht meine Nerven. Um mich abzulenken, beäugte ich die Szenerie am Straßenrand. Kilometerlang zogen sich die bunten Stände von Straßenhändlern, die Handys, Uhren und Früchte feilboten.

Ich war völlig in der Szenerie versunken, als mich eine heftige Vollbremsung abrupt aus allen Gedanken riss. Auf der Überholspur stand eine Kuh. Etwa einen halben Meter trennte sie noch von unserem Kühler. Durchatmen. Nichts passiert. Dem Tier, meine ich. Denn eine heilige Kuh ist in Indien immer noch unantastbar. "Kein Problem, Mister Martin", sagte Rahul mit verlegenem Unterton. "In Deutschland gibt es keine Kühe auf den Straßen?", fragte er. "Nein", sagte ich gequält, "meistens nicht."