Die Einrichtung wird mit weiteren Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs konfrontiert. Die Heimleiterin will die Vorgänge aufarbeiten.

Bad Oldesloe. Die Missbrauchsvorwürfe gegen das katholische Kinderheim St. Josef reißen nicht ab. Nun liegen zwei neue Verdachtsfälle auf dem Tisch von Einrichtungsleiterin Birgit Brauer, 49. Sie sagt: "Ein älterer Herr hat sich gemeldet und von massiver Gewalt und sexuellen Übergriffen in den 50er-Jahren berichtet. Und ein junger Mann hat Vorwürfe gegen einen Erzieher erhoben, der hier in den 90er-Jahren gearbeitet hat." Damit hat sich die Zahl der bekannt gewordenen Vorfälle innerhalb kurzer Zeit verdoppelt.

Bereits im März und April hatten der Lübecker Sozialpädagoge Rudolf Kastelik, 62, und ein Geschäftsmann aus Dresden, 66, beide Ende der 50er- bis Anfang der 60er-Jahre in St. Josef zu Hause, Vorwürfe gegen einen damals im Haus tätigen Kaplan erhoben. Die Staatsanwaltschaft Lübeck hat nach Auskunft ihres Sprechers Klaus-Dieter Schultz bislang nur Kenntnis vom Fall Kastelik, der allerdings, so Schultz, seit Jahrzehnten verjährt sei.

Wie viele weitere Fälle aus der Vergangenheit werden das Oldesloer Kinderheim wohl noch einholen? Und wie gedenkt die Leitung damit umzugehen? Solche Fragen sind es, die auch den Freunden und Förderern St. Josefs auf den Nägeln brennen. Sie sind Mitglieder jenes Vereins, den die Franziskanerschwester und frühere Leiterin Magda Schafstall, 72, gegründet hat.

Ortstermin im Keller des 108 Jahre alten Rotklinkerbaus. 15 Freunde und Förderer sind gekommen. Es sind ältere Frauen und Männer, einige von ihnen sind bekannt in der Stadt. So wie Hans Gerd Eissing, 60, von Beruf Umweltamtsleiter beim Kreis. Er hakt nach: "Wie viele weitere Fälle werden das Haus denn nun noch einholen?" Ganz ehrlich: Sie wisse es nicht, sagt Heimleiterin Brauer. "Aber es könnte durchaus sein, dass sich noch das eine oder andere Opfer melden wird."

Heutzutage, sagt die Heimleiterin, sei jedoch sichergestellt, dass sich Missbrauchsfälle nicht wiederholen können. "Wenn ein Erzieher zu einem Kind ins Zimmer geht, bleibt die Tür immer offen. Wenn ein männlicher Erzieher Ärger mit einem Mädchen hat, zieht er immer eine Kollegin hinzu. Das sind ganz praktische handwerkliche Vorschriften." Das seien auch Vorschriften, die die Mitarbeiter schützen sollen, schützen vor ungerechtfertigten Anschuldigungen.

Und wie schnell es dazu kommen könne, sagt Brauers Vorgängerin, Magda Schafstall. "Im Grunde genommen steht man als Erzieher immer mit einem Fuß im Gefängnis." Gerade Sexualität sei im Heim ein besonders sensibles Thema. "Über die Hälfte unserer Kinder sind in ihrem Leben schon missbraucht worden", sagt die Ordensschwester. "Diese Kinder müssen wir erst mal formen. Müssen ihnen sagen: Das ist dein Körper. Biete dich nicht an." Manche Kinder gingen viel zu nah an die Erwachsenen heran. Ihnen müsse man erst mal zeigen: Halt! Distanz ist wichtig.

In Hamburg, in den 90er-Jahren, hat sie einmal einen Erzieher entlassen müssen. In Bad Oldesloe - mit Unterbrechungen ist Schwester Magda seit 1964 im Kinderheim St. Josef - sei ihr aber nie etwas aufgefallen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir etwas nicht gesehen hätten."

Eine Frage, die sich aufdrängt, beantwortet die 72-Jährige in großer Runde nicht. Sie ist ja auch von niemandem gestellt worden. Also im Anschluss unter vier Augen: "Glauben Sie den vier Opfern, die sich nun gemeldet haben?" Schwester Magdas Worte sind von bestechender Ehrlichkeit: "Ich erziehe mich dazu, ihnen zu glauben."

Im großen Kreis der Freunde und Förderer geht es um andere Themen. Darum zum Beispiel, dass die katholische Kirche gerade zu Unrecht verunglimpft werde. Oder, wie es der Apotheker Otto Fickel, 71, sagt: "Ich meine, dass hier auf der Kirche rumgeschossen wird. Pädophilie ist eine Krankheit, die sich nicht nach der Konfession richtet, sondern die gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt ist." Fickel ist sich sicher: "Wer jetzt als erster den Mund aufmacht, bekommt auf die Nase." Rentner Waldemar Götting, 85, geht noch weiter: "Das Thema wird doch nur von den Medien ausgeschlachtet, weil es so pikant und interessant klingt." Er stellt sogar infrage, ob es sexuelle Übergriffe gegeben habe: "Da wird von Kindern ja auch viel hineininterpretiert."

Die Regionalausgabe Stormarn des Abendblattes hatte den angeschuldigten Ex-Kaplan, heute ein Prälat von 84 Jahren, in seinem Altersheim besucht. Er hatte beteuert, dass an den Vorwürfen nichts dran sei: "Ich habe eine weiße Weste." Dass es durchaus viele ehemalige Heimbewohner gibt, die über den Geistlichen ausschließlich Positives berichten, weiß auch Einrichtungsleiterin Birgit Brauer. Dennoch nimmt die Diplom-Psychologin die Vorwürfe sehr ernst. Auch das sei ein Kapitel des Kinderhauses St. Josef, das deshalb in der Chronik Niederschlag finden müsse. Ihr schwebt eine Sammlung von Zeitzeugenberichten vor, die die sich über Jahrzehnte wandelnden Erziehungsmethoden widerspiegeln. Daraus könne dann heute jeder seine eigenen Rückschlüsse ziehen. Wird das Kinderhaus mit weiteren Vorwürfen konfrontiert werden? Birgit Brauer weiß es nicht. Falls ja, wird sie auch die protokollieren und ans Erzbistum in Hamburg weiterleiten. Und diejenigen, die sich als Opfer fühlen, einladen. Damit sie sich ein Bild vom heutigen Haus St. Josef machen können.