Bauernsohn, Psychiater, mutmaßlicher Massenmörder - und noch immer wird er von vielen Serben verehrt.

Hamburg. "Schon lange gab es von mir keine Nachrichten, nicht vom Himmel, nicht von der Erde." Das schrieb Radovan Karadzic in seinem Gedichtband "Slawischer Gast". Heute hat die Welt fast 13 Jahre nichts von ihm gehört, dem Dichter, dem Psychiater, dem bosnischen Serbenführer, dem Schreibtischgeneral von Srebrenica, Zuchtmeister von Sarajevo, dem gesuchten mutmaßlichen Massenmörder. Er verbarg sich hinter einem langen Solschenizyn-Bart und einer Brille. Ein flüchtiges Gespenst mit weißen Rübezahlhaaren statt der auffälligen silbernen Haartolle, das stets seinen Häschern entkam. Am Ende wurde er doch gefasst.

Radovan Karadzic (63) hat ein ganzes Land in die Hölle gestürzt. Er befehligte während des Bosnien-Krieges von 1992 bis 1995 die serbischen Truppen; sein erklärtes Ziel war die vollständige Vertreibung aller Muslime. Am Ende des Krieges waren vier Millionen Menschen auf der Flucht, fast 260 000 waren tot. Völkermord, ethnische Säuberungen, Belagerung von Sarajevo, Schießbefehl auf Zivilisten, Gefangene hinter Stacheldraht im Lager Omarska, Gräueltaten in der Enklave Srebrenica, in der auf seine Weisung fast 8000 unbewaffnete Männer, darunter auch Jugendliche, von einer serbischen Soldateska niedergemetzelt worden sind. Das sind die Verbrechen, für die sein Name steht: Radovan Karadzic.

Er selbst pflegt zu sagen: "Ich bin kein Monster, ich bin Schriftsteller." Kultur schützt und bewahrt nicht vor Barbarei. Nicht den Einzelnen, nicht die Allgemeinheit. Karadzic schrieb Romane, Theaterstücke, fünf Gedichtbände, für die er zweimal ausgezeichnet wurde. Seine Kinderbücher - alle Bestseller. Ein Literat zwischen Genie und Wahnsinn. Kunst und Massenmord? Kein Einzelfall. Hitler zeichnete Aquarelle, Stalin verfasste romantische, Saddam orientalisch-schwülstige Gedichte. Zwei Seelen, ach!, in ihrer Brust?

Im Falle Radovan Karadzics, dem Ex-Psychiater, handelt es sich um einen ausgeprägten Hang zu Schizophrenie. Seine Anhänger verehren den Ideologen der immer noch schwelenden großserbischen Ambitionen glühend. Der Karadzic-Mythos lebt. Auch wegen seines erfolgreichen Versteckspiels wird er bewundert. Fünf Millionen Dollar waren auf seinen Kopf ausgesetzt. Nach Osama Bin Laden war Karadzic der meistgesuchte Mann der Welt. Zeitweise jagten fast 50 000 Nato-Soldaten der internationalen Sfor-Truppe den mutmaßlichen Kriegsverbrecher.

Dabei ist Bosnien ein kleines Land. Unter Kindern und Jugendlichen sollen noch heute Karadzic-Fotos wie Heiligenbildchen zirkulieren. Viele Serben sind überzeugt, dass der frühere Präsident der Republik Srpska (Serbische Republik Bosnien-Herzegowina) kein Kriegsverbrecher ist. Die Erschütterungen der Festnahme sind also noch nicht ausgestanden. Zumal das von Karadzic aufgebaute geheime Netzwerk aus politischer und wirtschaftlicher Macht, das gut am Krieg verdiente, noch weitgehend intakt ist. Auch Polizei und orthodoxe Kirche sollen Karadzic während seiner jahrelangen Flucht gedeckt haben.

Schuldgefühle? Die dürften Karadzic kaum plagen. Wer den Serbenführer nach den Mitteln der Kriegsführung, nach Lagern, nach Vergewaltigung von Frauen und Kindern fragte, erntete stets ein Lächeln. Und ein Dementi: Das sei anti-serbische Propaganda. "In unseren Lagern war die Lage doch nur deshalb so schlecht, weil es wegen der Sanktionen kein Essen gab", sagte er. Oder: "Wenn Sie wüssten, wie strikt unsere Generale in moralischen Fragen sind, dann wüssten Sie, dass es keine Vergewaltigungen gab."

Karadzic, der mit Sprache umgehen kann, rechtfertigt sich nicht. Er lügt.

Wahr ist, dass der Sohn einer montenegrinischen Bauernfamilie, nach eigenen Angaben tiefgläubiger Christ, seinem großserbischen Traum jedes menschliche Gefühl untergeordnet hat. Die britische BBC zeigte in den letzten Kriegstagen Bilder, wie Karadzic von einer Panzerstellung aus Sarajevo beschießen lässt. Dazu rezitiert er eines seiner Gedichte: "Ich höre die Schritte der Zerstörung./Die Stadt brennt wie Weihrauch in der Kirche."

Der Häftling Karadzic wird künftig viel Zeit haben, nachzudenken. Einsamkeit dient dem Schreiben.