Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) spricht über die Thesen Sarrazins, den Neustart der Regierung und ihre Zukunft als Parteivize.

Ihren Redaktionsbesuch beim Hamburger Abendblatt nutzte die Ministerin, um die Verlängerung der Atomlaufzeiten zu verteidigen. Zugleich sieht sie Deutschland auch in Zukunft als Weltmarktführer für erneuerbare Energien.

Hamburger Abendblatt:

Die Wirtschaft boomt wieder. Wem gehört dieser Aufschwung? Angela Merkel? Gerhard Schröder? Olaf Scholz? Ursula von der Leyen?

Ursula von der Leyen:

(lacht) Den Aufschwung würde ich nicht für mich reklamieren, ich bin ja erst seit neun Monaten im Amt. Der Aufschwung gehört zunächst den Menschen, die ihn erarbeiten. Dazu kommt das gute Krisenmanagement der Regierung Merkel und außergewöhnlicher Zusammenhalt von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Das hat uns das Jobwunder beschert.

Die FDP hebt das schwarz-gelbe Wachstumsgesetz hervor - und dringt auf weitere Steuersenkungen ...

Von der Leyen:

Deutschland hat zwei Instrumente in der Krise genutzt: Steuersenkungen und Konjunkturprogramme. Damit sind wir sehr gut gefahren, aber das war auch sehr teuer. Jetzt, nach der Krise müssen wir eisern sparen, damit uns nicht irgendwann die Schulden erdrücken.

Der FDP geht es zentral um Steuersenkungen.

Von der Leyen:

Wir haben ganz klare Prioritäten. An erster Stelle steht die Haushaltskonsolidierung. Als zweiten Schritt denken wir an Steuervereinfachung.

Die Gewerkschaften verweisen auf jahrelange Zurückhaltung in den Tarifverhandlungen - und fordern kräftige Lohnerhöhungen ...

Von der Leyen:

In der Tat sollten in der Aufschwungphase die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch davon profitieren, die Tarifverhandlungen müssen allerdings Arbeitgeber und Gewerkschaften führen.

Wie stabil ist dieser Aufschwung?

Von der Leyen:

Die Entwicklung am Arbeitsmarkt zeigt, dass der Aufschwung robust und nachhaltig ist. Die Kurzarbeit geht zurück, die Arbeitslosigkeit sinkt - sowohl bei den Langzeitarbeitslosen als auch bei den kurzzeitig Arbeitslosen.

Wie viele Menschen werden am Jahresende noch ohne Job sein?

Von der Leyen:

Ich bin zuversichtlich. Zu Beginn der Krise 2008 haben Experten noch fünf Millionen vorhergesagt. Wenn sich jetzt der positive Trend fortsetzt, werden wir in diesem Jahr in die Nähe der Drei-Millionen-Marke kommen. Darauf kann dieses Land stolz sein

Welche Perspektiven bietet die Entwicklung erneuerbarer Energien für den deutschen Arbeitsmarkt?

Von der Leyen:

Die grünen Jobs sind eine wichtige Komponente - für den Arbeitsmarkt und für die Umwelt. Aber sie sind nicht die einzige Wachstumsbranche. Der Dienstleistungssektor spielt eine größere Rolle.

Behindert die Regierung nicht die Entwicklung grüner Jobs, wenn sie Atomkraftwerke länger laufen lässt?

Von der Leyen:

Diese Gefahr sehe ich nicht. Das eine wird mit dem anderen Hand in Hand gehen. Die erneuerbaren Energien sind für uns enorm wichtig. Deutschland hat eine gute Chance, sich hier als Weltmarktführer zu etablieren. Als Arbeitsministerin habe ich ein großes Interesse daran, dass wir uns das Zukunftspotenzial der grünen Technologien erschließen.

+++Experte: Atomkompromiss ist veraltetes Energiekonzept+++

Würden Sie einem Schulabgänger raten, Kernphysiker zu werden?

Von der Leyen:

Ich würde mich freuen, wenn sich mehr junge Menschen für mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer entschieden. Zu wenige Schulabgänger steigen mit Neugierde in diese Berufsfelder ein. Vor allem bei jungen Frauen gibt es noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Welches Zukunftspotenzial hat die Atomenergie?

Von der Leyen:

Wir werden die Kernkraft noch einige Zeit brauchen, aber das Zeitalter der grünen Jobs hat schon begonnen.

Zuwanderer haben erheblich größere Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu bekommen als Deutsche. Worauf führen Sie das zurück?

Von der Leyen:

Menschen mit Migrationshintergrund können sehr erfolgreich sein. Bei den unter 25-Jährigen haben rund 30 Prozent Abitur. Anders sieht es aus, wenn man die Migranten insgesamt betrachtet. Da ist der Anteil derer, die keine oder nur geringe Schulbildung haben, erheblich. Das erklärt, warum so viele Migranten langzeitarbeitslos sind.

Fehlt muslimischen Zuwanderern die Bereitschaft zur Integration, wie Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin meint?

Von der Leyen:

Ich mag die Pauschalität solcher Aussagen nicht. Und mir missfällt sehr, dass sich die wichtige Integrationsdebatte so auf den ethnischen Hintergrund fokussiert. Für mich ist die entscheidende Frage: Haben alle Kinder die Chance auf frühe Bildung? Die Kenntnis der deutschen Sprache und Freundschaften mit deutschen Kindern im dritten oder vierten Lebensjahr sind die Grundlage für erfolgreiche Integration.

Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Michael Fuchs, will langzeitarbeitslosen Migranten die Unterstützung kürzen, wenn sie ihre Kinder nicht in die Kita schicken ...

Von der Leyen:

Ich halte wenig davon, das Erziehungsthema zu koppeln mit Kürzungen für den Lebensunterhalt. Die Ersten, die das bitter ausbaden müssen, sind die Kinder. Damit ist keinem Kind geholfen. Wenn Anzeichen für Verwahrlosungen da sind, muss das Jugendamt einschreiten, unabhängig ob Migrationshintergrund oder nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung aufgegeben, die Hartz-IV-Sätze neu zu berechnen. Können Langzeitarbeitslose auf mehr Geld hoffen?

Von der Leyen:

Die Zahlen des statistischen Bundesamtes, auf deren Grundlage wir rechnen können, liegen erst Ende September vor. Ich werde jetzt nicht im Kaffeesatz lesen. Klar ist jedoch, das neue Bildungspaket für bedürftige Kinder kostet mehr. Es geht um Lernförderung, warmes Mittagessen und nachmittags Sport oder Musik mit Gleichaltrigen. Das schafft Chancen für Kinder, später aus eigener Kraft aus der vererbten Armut rauszukommen.

Die elektronische Bildungskarte , die Ihnen vorschwebt, stößt in der CSU auf erheblichen Widerstand. Wie wollen Sie Ihren Parteifreunden die Sorge nehmen, dass Eltern entmündigt werden?

Von der Leyen:

Würden wir allen langzeitarbeitslosen Eltern ein paar Euro mehr überweisen, hätte das einzelne Kind, das Lernförderung braucht, überhaupt nichts davon. Mit sieben oder elf Euro zusätzlich wäre die Mathe-Nachhilfe oder die Leseförderung noch nicht möglich. Deshalb wollen wir das mit den Schulen so organisieren, dass die Leistung auch tatsächlich die Kinder erreicht. Die Bildungskarte ist nur ein modernes, unkompliziertes Zahlungsmittel.

Die Gefahr eine Stigmatisierung von Kindern, die mit einer Bildungskarte zahlen, sehen Sie nicht?

Von der Leyen:

Die Stigmatisierung findet doch heute statt. Wenn eine Hamburger Schulklasse einen Ausflug auf den Michel macht und ein Teil der Kinder den Eintritt nicht zahlen kann, weiß jeder: Das sind die Kinder aus den Hartz-IV-Familien. Wir stellen sicher, dass diese Kinder mitmachen und der Ausflug stillschweigend über die Bildungskarte abgerechnet wird. Unser Ziel ist, dass mittelfristig alle Kinder diese Karte bekommen und niemand erkennen kann, woher sie beladen ist: vom Bund, von der Bürgerstiftung oder von der Stadt.

Wann wird die Karte eingeführt?

Von der Leyen:

Wir planen, Mitte des nächsten Jahres mit den ersten Modellregionen zu beginnen. Ich führe Gespräche mit allen Bundesländern und würde mich sehr freuen, wenn Hamburg dabei wäre. Die ersten Gespräche waren sehr positiv. Hamburg wäre mit seiner guten Infrastruktur und dem hanseatischen Bürgersinn ein idealer Partner.

Frau von der Leyen, in der CDU vollzieht sich ein Generationswechsel. Stärkt das Ihre Partei?

Von der Leyen:

Es kommt darauf an, was man daraus macht. Ein Generationswechsel ist immer eine Chance.

Sie lassen sich auf dem nächsten Parteitag zur stellvertretenden CDU-Vorsitzenden wählen. Wie wollen Sie die Union aus dem Umfragetief führen?

Von der Leyen:

Es wird eine Weile dauern, bis wir wieder Vertrauen gewonnen haben. Wir müssen als Regierung zügiger und nachvollziehbarer handeln und unsere Entscheidungen besser erklären. Die Abstimmungsprozesse in den vergangenen Monaten waren zu mühsam, und wir haben vieles zerredet. Das kann besser werden.

Bleiben 40 Prozent plus x das Wahlziel?

Von der Leyen:

Es sind noch drei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl. Wir wollen jetzt beweisen, was wir können.

Es sind vor allem konservative Stammwähler, die sich von der Union abwenden. Wie wollen Sie Ihre Kernklientel versöhnen?

Von der Leyen:

Konservative Werte bleiben nur lebendig, wenn man sie in die Moderne übersetzt und das Notwendige verändert. Bedürftige Kinder aus der Armut herauszuhelfen und sie in die Lage zu versetzen, auf eigenen Beinen zu stehen, ist urkonservativ. Das ist das christliche Menschenbild.

Roland Koch geht, Ursula von der Leyen kommt - das werden die Wähler nicht als konservativen Aufbruch begreifen ...

Von der Leyen:

(lacht) Ich bin es ja Gott sei Dank nicht alleine.

Wer ist noch konservativ in der Union?

Von der Leyen:

Norbert Röttgen ist konservativ, wenn er als Umweltminister für die Bewahrung der Schöpfung eintritt. David McAllister ist fest in der Union verwurzelt, dabei hellwach für Chancen, die wir als Gesellschaft nicht verpassen dürfen. Er modernisiert, ohne zu vergessen, woher er kommt. Julia Klöckner, wertkonservativ, zupackend, mutig. Nur um einige zu nennen.

Die Sorge mancher Parteifreunde, dass rechts von der Union eine neue Partei entstehen könnte, teilen Sie nicht?

Von der Leyen:

Wir müssen immer extrem wach sein auf dieser Seite. Aber es gilt auch: Für die Gründung einer Partei braucht es mehr als Poltern am rechten Rand.

Sie waren Beinahe-Bundespräsidentin, jetzt werden Sie als nächste Bundeskanzlerin gehandelt. Wie schätzen Sie selbst Ihre Perspektiven ein?

Von der Leyen:

Ich halte mich fern von Spekulationsblasen, das habe ich gelernt. Ich nutze das Amt der Arbeits- und Sozialministerin, um Dinge voranzutreiben, die mir am Herzen liegen.

Gab es eine Sekunde, in der Sie darüber nachgedacht haben, wie Sie das Amt der Bundespräsidentin ausfüllen?

Von der Leyen:

Die turbulente Woche nach dem Rücktritt von Horst Köhler ist abgeschlossen. Jetzt mache ich auch darüber meine Handbewegung des versiegelten Mundes.