Die Union hat sich seit Monaten auf den Koalitionsbruch vorbereitet. Jetzt wittert der Ministerpräsident seine historische Chance.

Kiel. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) eilt gestern Morgen angespannt in den Sitzungssaal der CDU-Fraktion im Landeshaus. Sofort brandet Beifall auf. Carstensen ist sichtlich gerührt. Die harsche Kritik aus den eigenen Reihen, die bittere Häme über den fröhlichen, aber unpolitischen Friesen ist mit einem Schlag vergessen. Die CDU feiert den Mann, der bei der Neuwahl im September an die großen Zeiten der Union in Schleswig-Holstein anknüpfen will.

"Erst kommt das Land, dann die Partei", bekräftigt Carstensen gestern. Ein Parteifreund verdreht die Augen. Im Landeshaus ist es ein offenes Geheimnis, dass die CDU sich seit Monaten auf den Koalitionsbruch vorbereitet hat und es ihr dabei nicht nur um das Wohl der Menschen im Norden geht. Carstensen wittert die fast historische Chance, nach 21 Jahren die Ära der SPD als Regierungspartei zu beenden.

Seinen Anspruch hat er nie klarer formuliert als vor fünf Jahren auf einem Parteitag in Norderstedt. Dort kündigte der CDU-Landesvorsitzende an, als Ministerpräsident an die großen Zeiten von Gerhard Stoltenberg "und auch von Uwe Barschel anzuschließen". Carstensen brach damit, wie er später einräumte, bewusst ein Tabu. Barschel war seit der Kieler Affäre 1987, nach den Machenschaften aus der Staatskanzlei gegen Björn Engholm, aus der Heldengalerie der CDU verbannt.

Grund war der beispiellose Absturz der "Schleswig-Holstein-Partei" bei der folgenden Landtagswahl. Nur 33 Prozent der Wähler stimmten im Mai 1988 für die Christdemokraten, das Ergebnis war vor allem die Quittung für die Barschel-Affäre. Nach fast 40 Jahren ununterbrochener Regierungsverantwortung fand sich die CDU über Nacht auf den harten Oppositionsbänken wieder - ein Job, den sie nie gelernt hatte.

Fatal war in der Folgezeit der Mangel an geeigneten Köpfen. Der Landesvorsitzende und Bundesminister Gerhard Stoltenberg war weit weg in Bonn und vor allem damit beschäftigt, unbeschadet aus dem Politikdrama zu kommen, das damals mit dem Tod von Uwe Barschel in Genf die ganze Republik erschütterte. Wer auch immer bis dahin in der Landespartei Rang und Namen hatte, galt als belastet. Carstensen war außen vor. Er kümmerte sich im Bundestag um Jäger, Bauern und Fischer, spielte in der Nord-CDU nur eine Nebenrolle.

Als Spitzenkandidat für die Union zog 1988 der bisherige Justizminister Heiko Hoffmann in einen aussichtslosen Wahlkampf. Der redliche, aber auch blasse Jurist war so gar nicht geeignet, der CDU neues Selbstvertrauen einzuflößen.

1989 legte Stoltenberg den Landesvorsitz nieder. Neben den bislang außerhalb ihrer Wahlkreise wenig aufgefallenen drei schleswig-holsteinischen Bundestagsabgeordneten Peter-Kurt Würzbach, Dietrich Austermann und Otto Bernhardt bewarb sich, lanciert von Stoltenberg, auch der im Land völlig unbekannte und überhaupt nicht vernetzte Ottfried Hennig um den Vorsitz - und gewann. Zweimal trat er als Spitzenkandidat an, konnte aber 1992 den Amtsinhaber Björn Engholm (SPD) ebenso wenig gefährden wie vier Jahre später dessen Nachfolgerin Heide Simonis (SPD).

Vor allem die mächtige Gruppe der Bundestagsabgeordneten rund um die Verlierer bei der Wahl zum Landesvorsitzenden sorgte zuverlässig dafür, dass es Hennig und der Fraktion nicht gelang, Profil zu gewinnen. Vorneweg kämpfte Würzbach. Der konservative Frontmann übernahm die Parteiführung 1997 und sah sich bereits als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl 2000.

Ein letztes Mal zog Übervater Stoltenberg die Notbremse. Er heuerte Volker Rühe an. Der Ex-Verteidigungsminister fackelte nicht lang, meldete sich in Hamburg ab, in seinem Ferienhaus in Tönning an und zwang die zerstrittene CDU unter sein rigides Kommando. Würzbach rührte im Wahlkampf keinen Finger für den Importkandidaten, der die Nord-Union erstmals wieder von einem Sieg träumen ließ. Das bittere Erwachen kam mit der CDU-Spendenaffäre. Die Union stürzte bei der Wahl 2000 auf 35 Prozent ab, also fast auf Barschel-Niveau.

Sofort wurden die Messer gewetzt, Würzbach als Parteichef abserviert, ein echter Neuanfang beschlossen. Das Ruder übernahm Johann Wadephul, mit damals 37 Jahren der Nachwuchsstar der Union. Carstensen hielt sich zurück. Die vielen Sitzungen, auf denen die CDU-Kreisvorsitzenden um Personal und Perspektiven feilschten, waren ihm zuwider und wohl auch zu anstrengend. Wadephul modernisierte die altmodische Heimatpartei, überwarf sich aber auch mit der unverändert mächtigen Riege der alten Bundestagsabgeordneten.

Wortführer war wieder einmal Austermann. Er soll mit Carstensen ausgeheckt haben, die Uhr in Kiel zurückzudrehen. 2002 warf Wadephul das Handtuch. Die CDU war so zerrüttet, dass nur Carstensen übrig blieb. Er gehörte zu den alten Haudegen, aber keinem der Flügel an, wurde in dem Intrigantenstadl schnell als der "kleinste gemeinsame Nenner" akzeptiert.

Die Begeisterung legte sich bald. Bauer Carstensen, der gern aus dem Bauch entscheidet, ließ im Landtagswahlkampf 2005 zunächst kein Fettnäpfchen aus, suchte über die "Bild"-Zeitung eine Lebensgefährtin. In der CDU luden die "Heckenschützen", wie Carstensen sie nannte, schon wieder durch. Ein halbes Jahr vor der Wahl dachte er sogar darüber nach, die Brocken hinzuwerfen.

Für Klarheit sorgte Angela Merkel. Sie stellte Carstensen Wahlkampf-Profis an die Seite. Am Wahlabend lag die CDU zwar erstmals seit 1987 wieder vor der SPD, holte zusammen mit der FDP aber nur 34 Sitze im Landtag und damit einen weniger als die Dänen-Ampel (SPD, Grüne, SSW). Carstensen steckte nicht auf und wurde mithilfe des "Heide-Mörders", der Simonis die Stimme versagte, letztlich Ministerpräsident.

Derzeit sitzt Carstensen fest im Sattel, weil er alternativlos ist und gute Chancen hat, bei einer Neuwahl eine Koalition mit der FDP zu etablieren. Das erst wäre die "richtige" Rückkehr der CDU an die Macht im Land. Klar ist aber auch, dass im Fall eines Wahlsiegs sofort die Diskussion über einen geeigneten Nachfolger beginnt. Carstensen ist schließlich 62. An den Drehbüchern wird im Intrigantenstadl der schleswig-holsteinischen CDU bereits eifrig geschrieben.