Mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen ist in Deutschland an die Reichspogromnacht und den Mauerfall erinnert worden.

Berlin. Mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen in der Hauptstadt Berlin und in den Ländern ist am Mittwoch an den Mauerfall vor 22 Jahren, aber auch an den Beginn der systematischen Judenverfolgung 1938 erinnert worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete auf einer Konferenz in Berlin den 9. November 1989 als einen Tag des „unbeschreiblichen Glücks“. Der Drang der Menschen nach Freiheit sei „stärker als Beton“ gewesen, sagte die CDU-Vorsitzende. Berlin sei in der Folge zu einer der lebendigsten Städte weltweit geworden.

Die Kanzlerin erinnerte auch an den 9. November 1938. Dies sei ein „Tag der Schande“ für Deutschland gewesen und ein Vorbote für den Zivilisationsbruch der Schoah durch die Nationalsozialisten. Deutsche hätten damals Deutsche verfolgt, weil sie Juden gewesen seien.

Licht und Schatten der deutschen Geschichte

Wie kein anderer Tag steht der 9. November für Licht und Schatten in der deutschen Geschichte und wird von vielen als Schicksalstag der Nation wahrgenommen. Am 9. November 1918 rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann von einem Balkon am Reichstag aus die Deutsche Republik aus. Die Nazi-Diktatur beendete 1933 die Weimarer Republik und am 9. November 1938 gingen Nazi-Schergen erstmals gezielt und mit Gewalt gegen jüdische Mitbürger vor und setzten landesweit Synagogen in Brand. Am 9. November 1989 schließlich endete nach einer friedlichen Revolution mit dem spektakulären Fall der Mauer in Berlin die kommunistische Diktatur in der DDR.

+++Die Reichspogromnacht 1938+++

+++Deutschland zieht Einheits-Bilanz+++

Berliner erinnerten mit einer Andacht in der Kapelle der Versöhnung an den Fall der Mauer. Auf Einladung der Stiftung Berliner Mauer wurde dort auch der Opfer der deutschen Teilung gedacht, die 28 Jahre andauerte, von 1961 bis 1989, und Hunderte Flüchtlinge aus der DDR das Leben kostete. Die Gäste der Veranstaltung entzündeten am Mauer-Denkmal an der Bernauer Straße Kerzen. Unter den Gästen waren Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn. Auch im benachbarten Brandenburg war der 22. Jahrestag des Mauerfalls ein Grund zum Feiern. CDU-Generalsekretär Dieter Dombrowski sagte in Potsdam, die Maueröffnung sei einer der größten Momente in der Geschichte Deutschlands gewesen.

Graumann gegen Schlussstrich

In mehreren Ländern erinnerten Politiker und Vertreter der jüdischen Gemeinden an die Judenverfolgung von 1938 und mahnten zur Wachsamkeit angesichts neuer rechtsextremer Gewalt. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sagte: „Einen Schlussstrich kann und wird es niemals geben.“ Wer die Opfer vergesse, töte sie aufs Neue, sagte er am Mittwoch bei einer Gedenkstunde an die Pogromnacht vom 9. November 1938 in der Frankfurter Paulskirche. „Wer meint, dass unsere Gefühle zu diesem Thema erlahmen, der irrt, wie er nur irren kann.“ Wer die Opfer vergesse, töte sie aufs Neue.

Dabei gehe es nicht darum, Schuld zuzusprechen, sagte Graumann. Erinnerung habe den Zweck das bessere Selbst zu bestärken und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Zugleich forderte der Zentralratspräsident, die Menschen nicht auf ihre reine Opferrolle zu reduzieren. „Sie waren so viel mehr.“ Sie hätten Familie, einen Beruf, Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte gehabt.

Hoffnungsvoll äußerte sich Graumann zur Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland. Juden lebten mittlerweile bewusst und gerne hier und würden respektiert und anerkannt. Es sei kein Trotz, aber feste Entschlossenheit, gerade in Deutschland jüdisches Leben aufzubauen und ihm sogar eine positive Perspektive zu geben.

Schauspielerin Altaras sieht abnehmende Berührungsängste

„Wir bauen hier unsere neue Gemeinschaft auf, gerade nicht als Opfergemeinschaft“, sagte Graumann, sondern aktiv, kreativ und mit den vielen positiven Dimensionen, die das Judentum zu bieten habe. Er sprach von einer machtvollen Vertrauenserklärung in die Menschen in Deutschland von heute und morgen.

Die Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras von der Steven Spielberg Shoah Foundation machte gleichwohl eine „verständliche Berührungsangst“ mit Juden in Deutschland aus, die aber langsam abnehme. „Was wissen die Menschen von uns“, fragte sie, um die Antwort gleich zu liefern: „Wenig“. Sie rief dazu auf, Fragen zu stellen, um zu lernen und zu verstehen.

+++ Lesen Sie dazu auch unter "Mein Quartier": Mahnwache gegen das Vergessen +++

Das Thema Juden und Deutsche, sagte Altaras, werde nie einfach sein. Sie sprach von einem sensiblen, leicht verletzlichem Verhältnis. Die Menschen seien aber mündig genug, das auszuhalten. Einen Schlussstrich brauche es nicht. Aufarbeitung und Gedenken sei schmerzhaft, „aber es fühlt sich richtig an“. Erinnerung müsse dabei lebendig sein, Trauer dürfe nicht im Ritual erstarren.

Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) wies darauf hin, dass sich am 9. November die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert balle. Sowohl der Wille zur Freiheit, der sich 1989 durch die Mauer gebahnt habe als auch der Wille zur Zerstörung, der sich an den Synagogen des Landes entladen habe, seien Teile der deutschen Geschichte.

Roth warnte aber davor, die verschiedenen Ereignisse etwa über einen nationalen Gedenktag am 9. November statt am 3. Oktober zu vermengen. Dann drohe ein Bedeutungsverlust.

Naziterror "unter den Augen der Öffentlichkeit"

Der Düsseldorfer Landtagspräsident Eckhard Uhlenberg gab zu bedenken, dass der Naziterror damals „stets unter den Augen der Öffentlichkeit“ stattgefunden habe. Seine Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Sylvia Bretschneider, forderte in Schwerin, demokratische Grundwerte müssten zu jeder Zeit gegen Extremisten verteidigt werden.

Thüringens Kultusminister Christoph Matschie (SPD) sagte bei einer Gedenkstunde der Jüdischen Landesgemeinde in Erfurt, aus der Geschichte ergebe sich eine besondere Verantwortung für das jüdische Erbe und die Pflege der jüdischen Kultur. Mit Kranzniederlegungen und Ansprachen erinnerten in Chemnitz Vertreter der Stadt sowie Bürger an die Opfer der Reichspogromnacht von 1938. Das Geschehene aus der Anonymität zu holen helfe dabei, zu verstehen, was damals geschehen sei, sagte Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD).

Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Dresden, Nora Goldenbogen, sagte, die Gemeinde habe nach dem Holocaust im religiösen und kulturellen Leben Dresdens wieder einen festen Platz gefunden. Vor 1933 lebten ihren Angaben nach 5.000 Juden in Dresden, während der Wendezeit waren es nur noch 61. Heute gibt es wieder rund 700 Juden in der sächsischen Landeshauptstadt.

In Darmstadt erinnert jetzt der Julius-Landsberger-Platz vor der Gedenkstätte „Erinnerungsort Liberale Synagoge“ an den früheren Rabbiner Julius Landsberger. Landsberger (1819 bis 1890) war der erste Rabbiner der Liberalen Synagoge Friedrichstraße, die im November 1938 von den Nazis zerstört wurde.

Mit Material von dapd