Abendblatt-Redakteure aus Ostdeutschland erinnern sich, wie es sich anfühlte, von einem Tag zum anderen in einem fremden Land zu Hause zu sein.

Hamburg. Die eine stand als Kind staunend vor einer Pyramide mit Ananas-Dosen, der andere leistete sich - als Ost-Reporter im Westeinsatz - die erste "Lila Pause": 20 Jahre nach der Einheit erinnern sich neun Abendblatt-Redakteure aus Ostdeutschland, wie es sich anfühlte, von einem Tag zum anderen in einem fremden Land zu Hause zu sein. Ein Volk packte an: Für Finanzminister Wolfgang Schäuble, damals Mit-Architekt des Einigungsvertrags, ist das deutsch-deutsche Zusammenwachsen eine große Erfolgsgeschichte. "So viel Glück haben wir in unserer Geschichte selten gehabt", sagte er im Abendblatt-Interview.

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Ina Maria Nießler, 52, Leserbrief-Redakteurin: Hoppla, im falschen Film?

Meine erste Westreise sollte auch meine letzte werden. Als am 24. Oktober 1989 meinem Antrag auf "einmalige Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland" stattgegeben wurde, konnte ich mein Glück kaum fassen. Mein Onkel Hans, der Bruder meines Vaters, feierte im schwäbischen Herrenberg seinen 70. Geburtstag, und die DDR-Reisebestimmungen ließen für bestimmte Anlässe Besuche bei nahen Angehörigen zu.

Einmal im Westen, hatte meine Verwandtschaft dann auch gleich eine Rundreise organisiert (ich wurde von Tante zu Onkel, von Cousin zu Cousine weitergereicht), die schließlich am 9. November 1989 bei meiner Cousine Christa in Heusenstamm (Hessen) enden sollte. Als wir am Abend eines wunderbaren Tages (ich sah zum ersten Mal den Rhein live) etwas erschöpft den Fernseher einschalteten, glaubten wir zunächst, im falschen Film zu sein. In Berlin war die Mauer gefallen! Unfassbar! Dann hatten sich ja unsere Demos in Leipzig gelohnt. Wir konnten es kaum glauben und lagen uns weinend vor Freude in den Armen, denn von jetzt an konnten wir uns zu jeder Zeit sehen und waren nicht auf die Willkür staatlicher Stellen angewiesen. Wolfgang, der Mann meiner Cousine, öffnete sofort eine Flasche Sekt, und wir haben - Ost und West - gemeinsam auf dieses historische Ereignis angestoßen.

Seit jenem 9. November 1989 ist es für Christa und mich jedes Jahr ein Ritual, an diesem Datum ein ganz besonders inniges Gespräch zu führen, um uns zu erinnern und zu freuen.

Dirk Merbach, 46, Creative Director: Gestrandet in Altona

Den Tag der Maueröffnung erlebte ich als Neu-Hamburger. Wenige Wochen zuvor war ich über die ungarisch-österreichische Grenze in die Freiheit gelangt. Bekannte aus Hamburg, auf deren Hilfe ich nach meiner Ankunft im Westen gehofft hatte, wiesen mich ab. In der Bahnhofsmission drückte mir jemand einen Zettel mit der Adresse der "Marco Polo" in die Hand. Das war eine jugoslawische Personenfähre, die die Hamburger Sozialbehörde angemietet hatte, um der wachsenden Flut der Flüchtlinge aus Osteuropa, auch aus der DDR, Herr zu werden. So wurde Neumühlen 15 in Altona meine erste Postadresse. Auf dem Schiff teilte ich mir mit einem sächsisch sprechenden Zahnarzt, der auch über Ungarn geflüchtet war, einige Wochen eine winzige Kabine. Ich habe ihn später nie wiedergesehen.

Die Ereignisse des 9. November verfolgten wir im Fernsehraum. Ich war angesichts meiner Situation und der Erlebnisse der Wochen zuvor nicht in der Lage, Freude darüber zu empfinden. Wenige Tage später war Hamburg übervoll von aufgekratzten Leuten auf Schnäppchenjagd - darunter viele von denen, vor denen ich Wochen zuvor geflüchtet war. Sie standen Schlange nach dem Begrüßungsgeld, bekamen Rabatt in den Etablissements an der Reeperbahn und ließen sich freiwillig mit Bananen und Schokolade bewerfen.

Etwa 14 Tage später - mein neuer Arbeitgeber hatte mich für einige Tage im Hotel Baseler Hof einquartiert - besuchten mich meine Eltern in Hamburg. Eine Hotelübernachtung wäre für sie unbezahlbar gewesen, so kamen sie bei einem jungen Paar in dessen kleiner Wohnung in Harburg unter. Die beiden hatten sich, wie viele Hamburger, an einer Aktion des Abendblatts beteiligt: Privatquartiere für Hamburger Gäste, die aus der DDR anreisten, gesucht!

An zwei Abenden saßen wir mit den jungen Leuten in ihrem Wohnzimmer und erzählten aus unseren Leben, die so erstaunlich vieles gemeinsam hatten - auch die Erfahrung, wie wichtig es ist, in schwierigen Situationen Menschen zu treffen, die zu teilen bereit sind. Die Begegnung mit den Harburgern ist mein Wiedervereinigungs-Erlebnis.

Mein Beruf führte mich noch im Dezember des Jahres in den Süden Deutschlands. Nach meiner Rückkehr nach Hamburg, zehn Jahre später, waren Name und Adresse der Harburger leider vergessen. An die wärmende Atmosphäre ihres Wohnzimmers erinnere ich mich aber jedes Jahr, wenn der November naht.

+++ Die Deutsche Einheit in Zahlen +++

Anne Dewitz, 31, Redakteurin Aus aller Welt: Ananas im Überfluss

Als wir zum ersten Mal mit unserem hellblauen Trabi von Rostock nach Lübeck knatterten, war die Grenze gerade mal ein paar Tage offen. Meine Schwester und ich winkten aufgeregt anderen Fahrern zu, die hupend und ebenfalls winkend an uns vorbeirauschten. Was für eine Freude! Bei unserer Ankunft in der Hansestadt drückte mir ein älterer Herr auf dem Parkplatz 20 Westmark in die Hand. Meiner Mutter war das schrecklich peinlich, während ich im Stillen sofort nachrechnete, wie viele Überraschungseier wir uns dafür kaufen könnten.

Zielstrebig steuerten wir einen Discounter an. Staunend standen wir vor einer Pyramide aus Dosen-Ananas. Nur ein paar Pfennige sollte eine Dose kosten? Die eingebeulten waren sogar noch reduziert. Warum verlangte man im Delikatladen bei uns unverschämte 16 DDR-Mark? Nur zu Familienfeiern leistete man sich diesen Luxus. Dann lag in der Mitte der Obsttorte ein Ananasring, damit jeder Gast ein Stückchen abbekam. Und hier wurden einem diese exotischen Früchte quasi hinterhergeworfen. Und es kam noch besser: In der Obstabteilung lagen Früchte, deren Namen wir noch nicht einmal gehört hatten. Okay, Bananen kannten wir mehr oder weniger vom Hörensagen. Aber was bitte sollte eine Kiwi sein? Die Vielfalt war berauschend. Alles war bunt und aufregend. Plötzlich gab es so viel Neues zu entdecken. Meine Euphorie war grenzenlos.

Vom Begrüßungsgeld kaufte ich mir übrigens eine Barbie. Ja, damals spielten Zehnjährige noch mit Puppen. Auf der Rückfahrt hielt ich sie stolz im Arm.

Matthias Gretzschel, 53, Kultur-Autor: Start mit weichen Knien

14 Tage nachdem ich Leipzig verlassen hatte und Bundesbürger geworden war, betrat ich an einem eiskalten Januartag 1990 zum ersten Mal die Abendblatt-Redaktion. Ziemlich beklommen durchschritt ich die Eingangshalle des Verlags, die ich mir allerdings pompöser vorgestellt hatte. Schließlich galt der Verlag Axel Springer in der DDR als "Hauptquartier des Klassenfeindes". Der damalige Abendblatt-Chefredakteur Peter Kruse nahm sich eine ganze Stunde Zeit für mich, fragte mich nach meinem Leben und war über die DDR erstaunlich gut informiert.

Kurz darauf stand ich in einem verrauchten Großraumbüro vor dem damaligen Feuilleton-Chef Helmut Söring, der in seinen Papieren wühlte und mich nach dem DDR-Schriftsteller Christoph Hein fragte. Ob ich etwas über den schreiben könne, der habe eine Lesung in Hamburg. Wann das denn sei, fragte ich. "In drei Stunden in der katholischen Akademie." Mir wurden die Knie weich, denn meine journalistischen Erfahrungen beschränkten sich auf die freie Mitarbeit bei DDR-Kirchenzeitungen.

Ich fragte mich zum Herrengraben durch und saß am Abend pünktlich in der Lesung von Christoph Hein, dessen Bücher ich alle gelesen hatte. Anschließend begann ich noch in der S-Bahn meinen Artikel zu schreiben, fand die Nacht keinen Schlaf und setzte mich schon um 5 Uhr morgens an meine DDR-Reiseschreibmaschine Erika. Ich hatte keine Ahnung, was genau von mir erwartet wurde, aber ich schrieb. Am Vormittag gab ich den Text per Telefon durch. Danach wartete ich auf einen Rückruf der Redaktion. Um eins wurde ich unruhig. Um drei war ich nervös. Um fünf begann ich zu verzweifeln. Um sieben war mir klar, dass ich den Anforderungen des Westens wohl nicht gewachsen sein würde. Der Text war offenbar so schlecht, dass die Redaktion es nicht einmal für nötig hielt, ihn höflich abzulehnen.

Tags darauf stand mein Artikel groß im Abendblatt mit der Zeile: "Wir haben so wenig Erfahrung: DDR-Autor Hein über Demokratie, Neonazis und Wiedervereinigung". Ich spürte, dass das für mich kein schlechter Anfang war in einer Zeit, in der so viel zu Ende ging und so vieles neu begann.

Egbert Nießler, 51, stellv. Politikchef: Die Eingeborenen und wir

Früher gab es am 3. Oktober vom Chefredakteur für die "Redaktions-Ossis" eine Flasche Sekt. Natürlich Rotkäppchen. Der Einwand, auch die Westkollegen seien wiedervereinigt worden und hätten ein Getränk verdient, wurde folgenlos mit einem Lächeln quittiert.

An dieser etwas einseitigen Vereinigungssicht hat sich nichts geändert. Diesmal sollen die Kollegen mit Minimal-Migrationshintergrund aufschreiben, wie sie das Glück von Einheit und Freiheit erlebt haben. Haben wir. Und ich erlebe es heute noch. Zum Beispiel, wenn ich durch Deutschland fahre und dort, wo früher Äcker durch Minenfelder und Stacheldraht getrennt waren, neue Autobahnen sehe. Oder wenn ich ohne Grenzkontrolle fast ganz Europa bereisen kann. Manchmal genügt ein guter Wein, Glücksgefühle auszulösen, eingedenk der vielen Liter Krätzer vom Balkan, die die Trostlosigkeit des Sozialismus aufhellen mussten. Ich freue mich, dass ich kaufen kann, was das Konto hergibt, und nicht zugeteilt bekomme, was leitende Genossen in ihrer unendlichen Güte dem Volk gönnten.

Die eingeborenen Westkollegen müssen nichts schreiben. Obwohl die Ossis ja nicht mit sich selbst wiedervereinigt wurden. Gut, sie haben nie Sekt bekommen, sind immer in Freiheit aufgewachsen, und die Autobahnen wurden von ihrem Steuergeld gebaut. Allerdings sind auch die Bewohner der beigetretenen Länder steuerpflichtig, und den Soli müssen sie beiläufig auch zahlen. Und manchmal sagt mir jemand, man merke mir gar nicht an, dass ich aus dem Osten komme. Soll wohl ein Kompliment sein. In mir löst es eher das Gefühl aus, mehr als Beispiel gelungener Integration denn als ganz normaler Vollbürger gesehen zu werden.

Jan Kny, 40, Artdirektion: Nur noch freie Worte

1989 war ich 19 Jahre alt und arbeitete als Schriftsetzer in der Akzidenzdruckerei der Tageszeitung "Freies Wort" in der thüringischen Kleinstadt Ilmenau. "Freies Wort" - der Name war natürlich keineswegs Programm, das Blatt war bis dahin eine sozialistische Parteizeitung mit komplett linientreuen Inhalten.

"Freies Wort - wenn man was sagt, kommt man fort" war ein überhaupt nicht linientreuer Reim, den eines Abends im Spätsommer 1989 ein zu Scherzen aufgelegter Ilmenauer ins offene Fenster der Setzerei rief. Gemeint war die Gefahr, im Gefängnis zu landen, wenn man seine Gedanken wirklich frei äußert.

Nicht amüsiert über den Spruch war ein Kollege aus dem Maschinensatz, der auch als Gewerkschaftsboss fungierte. Er rannte zum Fenster, konnte den Rufer im Dunkeln aber nicht mehr ausmachen. Wir alle wussten vom "Nebenjob" des Kollegen. Er war nicht nur Gewerkschaftsboss, sondern auch stadtbekannte Stasi-Petze! Ist die Verquickung von Gewerkschaft und SED beziehungsweise Gewerkschaft und Staatssicherheit eigentlich schon aufgearbeitet worden? Ich fand sie besonders widerlich. Ich kannte Gewerkschaft gar nicht anders. Gewerkschafter, das waren welche von "denen". Das war für mich selbstverständlich.

Besagter Kollege aus dem Maschinensatz war ein freundlicher älterer Herr, der gerne schwatzte und noch lieber zuhörte. Er verstärkte zur Wendezeit sein Engagement für "die Sache" noch, ging nun statt einmal sogar zweimal wöchentlich mit seinem dicht beschriebenen Notizblock zum Rapport in die Chefetage. Keiner durfte fragen, was er dort tat, aber alle wussten es. Während seiner Audienzen tauschten wir übrigens besonders freie Worte aus.

In den Monaten danach - der Sozialismus kaputt, das "Freie Wort" endlich frei - kauften er und eine Riege linientreuer Kollegen die Druckerei und gründeten eine GmbH. Mit minderem Erfolg offenbar, heute beherbergt das Gebäude die Filiale einer großen Bank.

Steffen Preißler, 50, Finanz-Autor: Pendler zwischen Welten

Der Anruf kam überraschend, wenige Monate nach der Einheit: Ob ich mir vorstellen könne, in Hamburg zu arbeiten, fragte mich der damalige Chef der Wirtschaftsredaktion des Abendblatts. Ja klar, schoss es aus mir heraus. Eine Entscheidung, die ich so schnell nur aus dem Bauch heraus treffen konnte, wie es sonst gar nicht meine Art ist. Mich trieben Neugier, Ehrgeiz, Unsicherheit und das tägliche Chaos in Leipzig in die neue Freiheit. Die Stadt hatte die Einheit mit den Montagsdemonstrationen wesentlich mit vorangetrieben. Jetzt würden die Folgen in vielen Bereichen keinen Stein mehr auf dem anderen lassen. Nicht gerade das Umfeld, das sich eine junge Familie wünscht, dachte ich und ignorierte die skeptischen Blicke der alten Kollegen.

Es war ein Sprung ins kalte Wasser mit Enttäuschungen und Zweifeln. Zwischen Vorstellungsgespräch und Hafenrundfahrt blieben nicht wirklich viele Eindrücke von Hamburg zurück. Ein schneller Start ging nur, wenn Frau und Sohn zunächst in Leipzig blieben. So wurde ich für ein halbes Jahr zu einem Pendler zwischen den Welten. Denn Wohnungssuche und Kinderbetreuung waren damals in Hamburg so schwierig wie heute. Mit den Erfahrungen aus dem Westen fuhr ich regelmäßig zurück in den Osten und umgekehrt. Das förderte zwar nicht das Familienleben, aber so bin ich schneller in die Einheit hineingewachsen, und der Ausverkauf einer Volkswirtschaft durch die Treuhand ließ sich so auch besser beurteilen. Zum Ende der Pendelphase habe ich dennoch jeden Tag gezählt. Nur mein Sohn schien zunächst etwas enttäuscht in der neuen Heimat. Denn bei jeder Rückkehr hatte ich ihm ein kleines Lego-Spielzeug mitgebracht.

Oliver Schirg, 48, Abendblatt-Online-Chef: Mit 35 DM zu Willy Brandt

Willy Brandt also. Eigentlich hatte ich im Januar 1990 - ich war seinerzeit als Redakteur der Tageszeitung "Junge Welt" für die Bundesrepublik zuständig und damit im Auslandressort angedockt - ein Interview mit Egon Bahr haben wollen und in der SPD-Zentrale in Bonn angefragt. Deren Sprecher beschied mir, dass Herr Bahr leider in den USA sei, wir aber, wenn wir denn wollten, ein Interview mit Willy Brandt haben könnten. Und das schon vier Tage später, am Montag also. Allein wollte ich das Gespräch nicht führen, also bat ich einen Kollegen mitzukommen. Das eigentliche Problem war jedoch ein finanzielles. "Westgeld"x gab es seinerzeit offiziell noch nicht in der DDR, war also knapp. Der Verlag haushaltete streng. So bekamen wir zwar die Genehmigung, von Berlin nach Bonn zu fahren. Allerdings stand für uns beide nur ein Tagessatz von 35 D-Mark zur Verfügung. Die Bahnfahrkarten konnten noch in DDR-Mark bezahlt werden, aber wir mussten - das Interview war für 11 Uhr angesetzt - bereits Sonntag anreisen. Das Übernachtungsproblem löste die Jugendherberge Bad Godesberg - je sieben Mark pro Nase. Jeweils rund zehn Mark gingen für U-Bahn-Fahrten und kleines (Bäcker-)Frühstück drauf. Abendbrot besorgten wir uns in der Landesvertretung des Freistaats Bayern. Dort gab es an jenem Sonntag wegen der Landtagswahl eine Wahlparty für Journalisten.

Den Montag über - wir mussten das Interview noch am selben Tag autorisieren lassen - versorgte uns die SPD-Zentrale mit Kaffee und Keksen. Am Abend, unser Zug ging kurz vor Mitternacht, waren wir Gäste des SPD-Sprechers. Am Ende leistete sich jeder von uns noch eine Milka-Lila-Pause. So eine günstige Dienstreise gab es nie wieder.

Denis Fengler, 35, Polizeireporter: Anarchie und neue Träume

Irgendwann Ende November 1989 drückte auch ich mich, als 14-Jähriger eingeklemmt zwischen Tausenden anderen und flankiert von meinen Eltern, durch die schmalen Tore des Grenzübergangs Bornholmer Straße in Berlin. Seit drei Wochen war die Mauer offen, warum wir erst so spät "rübermachten", weiß ich nicht mehr. Wir besuchten einen Onkel in Spandau, einen Sportschützen, der mir seine Pistolen zeigte, während seine Frau Westkaffee servierte - meine einzige Erinnerung an diesen historischen Tag.

Es waren mehr die Wochen davor und danach, die mich prägten. Ungeordnete Tage, fast anarchisch und wild, an denen sich die Freiheit langsam über unsere Hochhaussiedlung im tiefen Osten Berlins legte. Angefangen bei den "Gorbi, Gorbi"-Parolen, die wir frisch gebackenen FDJler an der Karl-Marx-Allee brüllten, abkommandiert zum Papierfähnchenschwenken. Subversive Rufe, da der "Wer zu spät kommt"-Streit zwischen Honecker und Gorbatschow längst bekannt war. Ich erinnere mich an Lehrer, die nach den Demos auf dem Alexanderplatz nicht unterrichten wollten, sich zu uns setzten, um zu diskutieren, viel öfter noch, um sich zu erklären. Wir bombardierten sie mit Fragen, die ein Jahr zuvor nur Staunen hervorgerufen hätten.

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der alles möglich schien, jeder seinen eigenen Konsumtraum lebte, in der die DDR sichtbar bröckelte und niemand das andere Ufer sah. Als von einem Tag auf den anderen die HO Kaufhallen plötzlich Kaiser's hießen, war auch die Wiedervereinigung nicht mehr weit. Die erste Euphorie war längst dem Alltag gewichen. Meine Familie trieb es bald darauf Richtung Hamburg. Anzukommen fiel mir nicht schwer. Den Weg dahin jedoch vergesse ich nie.