Längst wird in Deutschland an einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien geforscht. Japans Atomkatastrophe zeigt, warum dies richtig ist.

Eine besondere Tragik der Atomkraft-Technologie liegt darin, dass sie selbst ihr effektivster Feind ist. Keine noch so große Demonstration, keine noch so lange Menschenkette kann jene Macht entfalten, die den Bildern von Harrisburg, Tschernobyl und nun jenen aus dem japanischen Kraftwerk Fukushima entspringt. Explosionen in Atomreaktoren, live gezeigt auf den Bildschirmen der Weltöffentlichkeit, wecken bei den vermutlich meisten Betrachtern einen tief gehenden Wunsch: hinaus zu wollen aus dieser Technologie, deren radioaktive Bedrohung im Prinzip geruch-, geräusch- und geschmacklos ist. Abstand zu gewinnen von einer Gefahr, deren Folgeschäden für Menschen und Umwelt niemand wirklich ermessen kann.

Die Welt erbebt - Hier geht es zum großen Abendblatt-Dossier zur Naturkatastrophe in Japan

Die Debatte ums Für und Wider der Atomkraft wogt seit Jahrzehnten hin und her wie eine Pendel- oder Wellenbewegung. Die teilweise Kernschmelze im US-Reaktor Three Miles Island in Harrisburg führte der Welt 1979 erstmals vor Augen, was eine Havarie eines zivilen Atomreaktors in einem dicht besiedelten Gebiet wie seinerzeit im US-Bundesstaat Pennsylvania bedeutet. Die Explosion eines Reaktors im Kraftwerk Tschernobyl 1986 etablierte die Gegner der Atomkraft endgültig in den Parlamenten etlicher Industriestaaten. In Deutschland führte sie im Jahr 2000 zum Beschluss über den Atomausstieg bis um das Jahr 2022 herum. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte ihn in langen Verhandlungen mit der Stromwirtschaft durchgesetzt.

Doch der Technologie gelang ein Comeback - weil vor allem asiatische Staaten wie China, Japan oder Südkorea unbeirrt darauf setzen, weil Atomkraftwerke vordergründig das Klima schonen, weil die Welt während der Wirtschaftskrise anderes zu tun hatte, als Konzepte über den Umbau der Energieversorgung zu diskutieren.

Nun schlägt erneut eine Welle über der Atomkraft zusammen, und wie Treibgut schwimmen all die alten bekannten Einsichten darin herum: dass es keine absolute Sicherheit gegen Katastrophen in Atomkraftwerken geben kann, dass Strom aus Kernspaltung keine preiswerte Energie ist, wenn die gesamte Entstehungs- und Risikokette berücksichtigt wird, dass ein einziges Unglück für lange Zeit die Branche weltweit beeinträchtigen wird. Das gibt es bei keiner anderen Technologie.

Am Wochenende kündigten Oppositionspolitiker generös an, dass sie die Katastrophe in Japan zunächst nicht für eine neue innenpolitische Debatte um die Atomkraft in Deutschland nutzen wollten. Das war wohl weder ernst gemeint, noch war es nötig. Zwei Tage später schon sind die Atomkraft-Befürworter vor der Macht der Bilder aus Japan zurückgewichen. Die Bundesregierung setzt einstweilen ihren Beschluss von 2010 aus, die Laufzeiten für deutsche Reaktoren zu verlängern. Ein Ende der Atomkraft in Deutschland rückt wieder näher. In mehrfacher Hinsicht erweist sich nun, dass die Entscheidung der schwarz-gelben Koalition zur Verlängerung der Laufzeiten ein Fehler war. Nicht nur wurde ein seinerzeit mühsam erarbeiteter Konsens wieder aufgekündigt. Auch kostete der neuerliche Streit um längere Laufzeiten wertvolle Zeit und politische Kraft.

Längst arbeiten Fachleute an Szenarien und Modellen, um eine Vollversorgung Deutschlands mit Strom aus erneuerbaren Energien darzustellen - eine Energieversorgung nicht nur ohne Atomkraft, sondern auch ohne fossile Energieträger wie Erdgas, Kohle und möglicherweise auch ohne Erdöl für den Verkehrssektor. Im Januar legte der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, bei Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) ein Konzept für eine Vollversorgung mit Strom aus regenerativen Quellen bis zum Jahr 2050 vor. Dessen wichtigstes Fazit: "Die nutzbaren Potenziale an erneuerbaren Energien in Deutschland und in Europa erlauben es bei einem entsprechenden Ausbau von Speichern und Netzen, zu jeder Stunde des Jahres die maximal anzunehmende Nachfrage nach Strom zu bedienen", heißt es in dem Report, den ein hochrangiges Gremium von Wissenschaftlern erarbeitet hat, angeführt von Professor Martin Faulstich von der Technischen Universität München.

Die Energieexperten gingen bei der Erarbeitung des Papiers davon aus, dass die Laufzeiten der deutschen Atomreaktoren nicht über das Jahr 2022 hinaus verlängert werden. "Aus unserer Sicht ist die Atomkraft keine Brückentechnologie, die längerfristig gebraucht wird", sagte die Umweltökonomin Professor Karin Holm-Müller von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn dem Abendblatt. "Der Ausstieg aus dem Atomausstieg, der im vergangenen Jahr beschlossen worden war, ist aus unserer Sicht politisch auf jeden Fall der falsche Weg."

Denn längere Laufzeiten für Atomreaktoren in Deutschland, so die Auffassung vieler Kritiker, festigen auch die Überkapazitäten am deutschen Strommarkt und erschweren damit einen Strukturwandel hin zu erneuerbaren Energien und zu eher dezentral geführten Stromnetzen. Den Ausbau der erneuerbaren Energien wie Wind- und Sonnenkraft, Erdwärme und Biogas sowie eine deutlich effizientere Energienutzung will auch die Bundesregierung vorantreiben - allerdings mit der Atomkraft als "Brücke", so Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP). Diese würde nach den bisherigen Planungen der Regierung bis in die 2030er-Jahre hineinreichen.

Konzepte liefern letztlich nur Momentaufnahmen. Im Guten wie im Schlechten entfalten sich am realen Markt eigene Kräfte und Geschwindigkeiten. Kaum jemand hätte in den 1990er-Jahren für möglich gehalten, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung in Deutschland auf mittlerweile 17 Prozent steigen könnte, gegenüber rund 22 Prozent, die Atomkraftwerke beisteuern. Die wichtigste Basis dafür waren und sind gesetzlich festgelegte Einspeisevergütungen für Ökostrom.

Die Subventionen für die grünen Energien beflügelten in Unternehmen eine ungemeine technologische Dynamik. Die deutsche Solarindustrie überholte die lange Zeit führende japanische Konkurrenz, bei der Windkraft stieg Deutschland zum wichtigsten Herstellerland auf. Der Ökoboom führte allerdings auch in Sackgassen und zu ökonomischen Fehlentwicklungen. Die Solarindustrie gab ihre stark sinkenden Herstellungspreise nicht ausreichend an den Markt weiter und verspielte viel Vertrauen; Biosprit erwies sich als ökologisch zweifelhaft und als Konkurrent zum Nahrungsmittelmarkt; die Chancen für einen schnellen Aufbau von Windparks in der deutschen Nord- und Ostsee wurden weit überschätzt.

Der Unternehmer Frank Asbeck, Gründer und Chef des führenden deutschen Solartechnologie-Herstellers Solarworld, mahnt schon lange, dass die Vermarktung von Ökoenergien kein Selbstläufer sei. Er fordert eine konsequentere Ausrichtung der Unternehmen am Markt und eine schnellere Abkehr von Subventionen als viele seiner Konkurrenten. "Wir haben als Solarbranche unsere Hausaufgaben zu machen", sagte er dem Abendblatt.

Asbeck drängt auf Fortschritte bei der zuletzt zähen Diskussion um den Energiemix. "Es gab nicht den geringsten Grund, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern. Die ältesten Reaktoren hätte man ohne jede Auswirkung am Strommarkt vom Netz nehmen können - Deutschland ist beim Strom ein Netto-Exportland."

Die Perspektive einer Vollversorgung beschäftigt auch sein Unternehmen. Solarworld entwickelte gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik ein sogenanntes Kombikraftwerk. Windturbinen und Solarstromanlagen wurden bei dem Pilotprojekt mit Biomasse-Kraftwerken und einem Pumpspeicherkraftwerk zusammengeschaltet. Eine regionale Streuung der Anlagen, exakte Prognosen für Wind und Sonne, eine ausgefeilte Steuertechnik in den Computern lieferten Energie rund um die Uhr. "Das ist noch lange nicht das Ende des Weges", sagt Asbeck. "Aber wir haben nachgewiesen, dass eine Vollversorgung mit Ökostrom in Deutschland möglich werden kann."