Kanzlerin Merkel will die AKW in Deutschland nach der Katastrophe in Japan prüfen lassen. Die Opposition fordert schnellen Ausstieg.

Berlin/Stuttgart. Am Ende waren es 60 000 Menschen - und damit 20 000 mehr, als die Organisatoren erwartet hatten. Doch die Bilder der Atomkatastrophe in Japan brachten zahlreiche Atomkraftgegner spontan auf die Straßen von Stuttgart. Schulter an Schulter reihten sie sich in eine Kette, die von der Innenstadt bis zum zweitältesten Atommeiler Deutschlands in Neckarwestheim reichte. 45 Kilometer war ihr Protest lang. Aus dicken Boxen dröhnten Protestlieder. "Atomkraft abschalten" war auf grünen und schwarzen Luftballons im Stuttgarter Schlosspark zu lesen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Rufe auch bis zur Regierungszentrale von Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU). Es ist Wahlkampf im Südwesten - doch nicht nur dort ist nach dem Unglück in Japan eine neue Debatte über die deutsche Atompolitik entfacht.

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Die Welt erbebt - Hier geht es zum großen Abendblatt-Dossier zur Naturkatastrophe in Japan

Die Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima vor Augen ordnete Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Wochenende eine rasche Überprüfung der Sicherheitsstandards in allen 17 deutschen Meilern an. Wenn in einem hoch entwickelten Land wie Japan mit höchsten Sicherheitsstandards ein solcher Unfall passiere, könne auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, betonte sie. Merkel ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass sie die friedliche Nutzung der Kernenergie - als Brückentechnologie in das Ökoenergie-Zeitalter - für akzeptabel hält. Kanzlerin und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) betonen, jetzt sei nicht die Zeit, neu über die Laufzeiten nachzudenken. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) hatte zuvor eine neue Grundsatzdebatte über Atomenergie angeregt.

Im japanischen Atomkraftwerk Fukushima hatte sich nach dem schweren Erdbeben die Situation über das Wochenende dramatisch zugespitzt. Die Behörden vermuteten Kernschmelzen in zwei Reaktorblöcken und ordneten Massenevakuierungen an. Merkel und Röttgen zeigen sich erschüttert, auch wenn sie keine Gefahr für Deutschland sehen. "Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt", sagte die Kanzlerin nach einem Krisentreffen mit ihren zuständigen Ministern am Sonnabend.

Noch in dieser Woche soll es eine Debatte im Bundestag zu den Konsequenzen des Atom-GAUs in Japan geben. Das Thema müsse zudem auf die Tagesordnung der EU-Fachminister, forderte die Kanzlerin. Kritik bekam sie dafür von Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. "Es ist eine zweideutige Botschaft, auf der einen Seite zu behaupten, deutsche Anlagen seien sicher, auf der anderen Seite eine Überprüfung anzukündigen", sagte er. Auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel zeigt sich unzufrieden mit der Reaktion. Es liege der Verdacht nahe, dass es der CDU-Chefin lediglich "um die Beruhigung vor den Landtagswahlen geht". Wenn die Bundesregierung ihre Ankündigungen ernst meine, müsse sie nun die deutschen Kernkraftwerke "auf dem neusten Stand von Wissenschaft und Technik" überprüfen, alte Meiler wie Biblis A und B und Neckarwestheim I vom Netz nehmen, die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke stoppen und die Wende zu erneuerbaren Energien umsetzen, forderte der SPD-Chef.

Unionsfraktionschef Volker Kauder lehnte eine neue Diskussion über die Laufzeiten ab. "Wir brauchen jetzt keine neue Grundsatzdebatte über die Kernenergie in Deutschland", sagte er dem Abendblatt. "Wir haben bereits festgelegt, dass es sich dabei um eine Auslauftechnologie handelt, die eine Brücke in die Zeiten ist, in denen wir Strom komplett aus erneuerbaren Energiequellen gewinnen werden." Man müsse jetzt den Ausbau der Erneuerbaren massiv vorantreiben, um dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen, forderte Kauder. "Dafür erwarte ich auch von SPD und Grünen mehr Unterstützung. Wenn es um den Bau der notwendigen Infrastruktur wie etwa Hochspannungsleitungen geht, blockieren beide Parteien meistens nur."

Der Chef der Linkspartei, Klaus Ernst, forderte, dass nun "ein für allemal gesetzlich festgelegt" werden müsse, dass "die Nutzung der Kernkraft zur Stromgewinnung und der Export von Atomanlagen verboten ist". Atomkraftwerke seien tickende Zeitbomben, sagte Ernst dem Abendblatt. "Wir wollen den sofortigen Einstieg in den Ausstieg." In Deutschland erzeugen derzeit 17 Atommeiler Strom. Die schwarz-gelbe Regierung hatte im Herbst 2010 den unter Rot-Grün vereinbarten Ausstieg bis 2022 ausgesetzt. Jetzt bleiben die Meiler teilweise bis 2036 am Netz.

Umweltinitiativen wollen ihren Protest derweil fortsetzen. Für heute riefen sie bundesweit zu Mahnwachen auf - für die Opfer der Katastrophe in Japan, aber auch als demonstratives Zeichen für den Atomausstieg in Deutschland. Auch in Baden-Württemberg wollen die Gegner der Kernkraft auf die Straße gehen. Ministerpräsident Mappus will nun eine Expertenkommission einberufen, um mögliche Konsequenzen aus dem Atomunfall für Baden-Württemberg zu prüfen. "Sollte sich eine bisher nicht bekannte Fehlerquelle herausstellen, werden alle nötigen Konsequenzen vorbehaltlos gezogen", kündigte Mappus an.