Erstmals wird in Deutschland öffentlich im Fernsehen und Internet verhandelt. Aktionsbündnis sieht sich nach erstem Tag gestärkt.

Stuttgart. Einen guten Start nannte Vermittler Heiner Geißler die erste Runde im Schlagabtausch um Stuttgart 21 , dem neuesten „Demokratieexperiment“. Die Live-Diskussion sei fair und insgesamt sachlich gewesen, sagte Geißler am Freitagabend nach etwa sechseinhalb Stunden Sitzung. Thema war die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 sieht sich in seiner Kritik bestärkt. An diesem Sonnabend wird es die erste Doppel-Demonstration gegen und für Stuttgart 21 in der Landeshauptstadt geben – zeitgleich und nur 500 Meter voneinander entfernt. Die Befürworter rechnen mit 10.000 Menschen, die Gegner mit 30.000. Bei der Pro-Veranstaltung sollen Ex- Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) und Bahnchef Rüdiger Grube sprechen.

Geißler sagte: „Ich habe nicht den Eindruck gehabt, dass einer der Beteiligten versucht hat zu punkten.“ Man könne nicht erwarten, dass die gegnerischen Parteien bereits beim ersten Treffen zu einer gemeinsamen Bewertung der Fakten über das Milliarden-Bahnprojekt kämen.

BUND-Landeschefin Brigitte Dahlbender sagte: „Wir fühlen uns in der Kritik an dem Gesamtprojekt sehr bestätigt“, Es sei klar geworden, dass das von den Befürwortern als „Jahrhundertprojekt“ bezeichnete Vorhaben schon zu Beginn an seine Kapazitätsgrenze stoßen würde. Auch werde es keine Beschleunigung durch den Tiefbahnhof geben, sondern Umsteiger müssten mehr Zeit einplanen.

Bahn-Technikvorstand Volker Kefer zeigte sich dagegen „felsenfest“ überzeugt, dass Baden-Württemberg ohne Stuttgart 21 eine schlechte Zukunftsperspektive habe. Man habe deutlich gemacht: „Das Projekt ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hatte einen langen Vorlauf.“

Am Vormittag hatte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sein Eingangsreferat zu einer Abrechnung mit der Deutschen Bahn und der CDU/FDP-Landesregierung genutzt. „Wir sind der Meinung, dass Ihre Planung ein Rückschritt und kein Fortschritt ist“, sagte der Wortführer des Aktionsbündnisses. Bahn und Land seien mit ihrer Strategie gescheitert; das zeigten auch die monatelangen Massenproteste gegen das Milliardenprojekt.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Peter Hauk warf den Gegnern nach Ende der Sitzung vor, Stuttgart 21 auch während der Schlichtung als „reines Wahlkampfthema“ zu instrumentalisieren.

Bahnvorstand Kefer warb während des Treffens betont sachlich für den geplanten Tiefbahnhof und die neue ICE-Strecke nach Ulm: Dadurch könnten zwei Millionen Fahrgäste mehr gewonnen werden. „Das Projekt ist essenziell für den Lückenschluss im Fernverkehr.“ Die Bahn könne so mit dem Flugzeug konkurrieren. Die Reisezeit nach Ulm verkürze sich um 26 Minuten.

Palmer appellierte an Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), den Weg frei zu machen für einen Volksentscheid. Mappus hielt sich am Vormittag komplett zurück, am Nachmittag nahm er in Absprache mit Geißler nicht mehr teil.

Kefer betonte: „Das ist keine Diskussion um Stuttgart 21 und das Gesamtprojekt an sich.“ Es könne höchstens um Nachbesserungen gehen. Das sehen die Gegner anders. Sie wollen das Projekt stoppen. Palmer bestritt, dass der Wohlstand des Landes Baden-Württemberg daran hänge: „Wir werden nicht abgehängt. Und wir werden schon gar nicht verarmen, wenn Stuttgart 21 nicht gebaut wird.“ So sei der Nutzen des Vorhabens für den Güterverkehr gleich null. Es sei aus wirtschaftlicher und ökologischer Sicht viel wichtiger, die Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel auszubauen.

Kefer erklärte: „Bei Stuttgart 21 geht es primär um den Personenverkehr“ – und nicht um den Güterverkehr. Bei einem unterirdischen Durchgangsbahnhof werde es geringere Haltezeiten und weniger Störungen geben, außerdem werde der Flächenverbrauch reduziert; bis zu 10000 Arbeitsplätze entstünden. Der Umbau des Bahnhofs und die Anbindung an die ICE-Strecke nach Ulm sollen 4,1 Milliarden Euro kosten – die Neubaustrecke nochmals 2,9 Milliarden Euro.Die Kritiker rechnen mit deutlich höheren Kosten. Die Schlichtung soll bis zum 3. Dezember jeden Freitag fortgesetzt werden. Kommenden Freitag geht es um die Neubaustrecke nach Ulm.

Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) setzte sich gegen öffentliche Kritik an der Polizei nach deren hartem Einsatz gegen Stuttgart-21-Gegner zur Wehr. „Ich stehe uneingeschränkt zur Polizei und es wäre gut, wenn dies alle tun würden“, betonte er. Der Polizei-Einsatz am 30. September mit hunderten Verletzten hatte viel Kritik ausgelöst.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) warnte auf einer Tagung in Rostock davor, das Projekt zu stoppen. Er lasse nicht an der planungstechnischen und rechtsstaatlichen Legitimation des Bauvorhabens rütteln.

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Geißler in der Kritik: Reizwort "Basta" sorgt für Zündstoff

Er ist der Vermittler im heftigen Streit um das Bahngroßprojekt Stuttgart 21: Heiner Geißler, 80 Jahre alt, soll als Streitschlichter die Wogen glätten, doch erntet er mit seiner Kritik an „ Basta-Entscheidungen “ bei dem Milliardenprojekt heftigen Widerspruch. CDU, FDP und Städtetag wehrten sich am Montag gegen den Eindruck, das Bahnvorhaben sei gegen den Willen der Bürger durchgedrückt worden. Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) stützte jedoch die These Geißlers, dass Großprojekte künftig anders vorbereitet und erklärt werden müssten. Indes empfahl der SPD-Politiker und Städtetagspräsident Ivo Gönner, bei der Landtagswahl entweder für die CDU oder die SPD zu stimmen, um Stuttgart 21 durchzusetzen. „Dieses Projekt ist nicht durch Basta entschieden worden, sondern durch einen 15-jährigen Prozess“, sagte CDU-Generalsekretär Thomas Strobl. Mit Blick auf den Regierungsstil von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ergänzte er: „Basta war Schröder, nicht Mappus.“ Er kritisierte die SPD für ihre Forderung nach einem Volksentscheid. „Die SPD ist eine Partei, die zugleich dafür und dagegen ist.“ Der Generalsekretär der Bundes-CDU, Hermann Gröhe, versprach weiteren Rückenwind für das Projekt aus Berlin. „Das ist für die CDU fundamental: Dass wir uns hinstellen, wenn wir von etwas für dieses Land überzeugt sind.“

Im Schlossgarten neben dem Stuttgarter Hauptbahnhof machten am Abend tausende Demonstranten erneut ihrem Unmut gegen das umstrittene Bahnprojekt Luft. Nach Angaben der Veranstalter versammelten sich rund 23.000 Menschen zu der sogenannten Montagsdemonstration, die Polizei sprach von rund 10.000 Teilnehmern. Der Protestzug verlief diesmal friedlich. Kaum ein deutsches Infrastrukturprojekt sei in den vergangenen Jahren so ausführlich diskutiert worden wie Stuttgart 21, sagte der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Patrick Döring, in Berlin. Zudem habe es seit Mitte der 90er Jahre zahlreiche Wahlen im Land gegeben, bei denen die Befürworter von Stuttgart 21 eine deutliche Mehrheit bekommen haben. „Demokratie ist am Ende auch die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit.“

Städtetagschef Gönner monierte, Geißler erwecke den Eindruck, als sei das Verfahren „höchst undemokratisch und unrechtsstaatlich“ erfolgt. „Ich halte die Einschätzung nicht für zukunftsfähig“, sagte Gönner. Mappus sagte, Geißler habe recht, wenn er sage, dass mangelnde Kommunikation Hauptursache für den Konflikt um das Milliardenprojekt sei. „Der Umkehrschluss ist, dass Großprojekte auch nach meiner Meinung, so wie es bisher war, nicht mehr durchsetzbar sind.“ Stuttgart 21 stehe grundsätzlich nicht infrage. Die Menschen müssten aber in regelmäßigen Etappen einbezogen werden: „Es ist offensichtlich nicht hundertprozentig gelungen, sonst hätten wir das Problem jetzt nicht.“

Der erfahrene Tarifschlichter Geißler hatte am Wochenende die Entscheidungsprozesse bei dem 4,1 Milliarden Euro teuren Bahnprojekt kritisiert, weil die Bürger nicht eingebunden worden seien. „Die Schlichtung ist ein deutliches Signal dafür, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei ist“, hatte er gesagt. Aus Ärger über den Widerstand gegen Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm gab Städtetagspräsident Gönner eine doppelte Wahlempfehlung ab: Nur wenn CDU und SPD bei der Landtagswahl am 27. März 2011 vorne lägen, werde das Bahnprojekt auch verwirklicht. „Ich werbe dafür, dass die SPD, die in der Sache dafür ist, stark wird. Und ich werbe dafür, dass die CDU stark wird, weil sie dafür ist“, sagte Gönner der dpa. Er kritisierte erneut, dass seine Partei einen Volksentscheid über das Projekt fordert. Die Grünen dürften auf keinen Fall gestärkt werden. Im Lager der Gegner gibt es indes weitere Risse: Grünen- Fraktionschef Winfried Kretschmann sieht die vorübergehende Besetzung des Südflügels des Hauptbahnhofes durch Stuttgart-21-Gegner kritisch. „Denn es herrscht ja Friedenspflicht, und diese Aktion könnte die Gespräche beeinträchtigen“, sagte er.

Am Sonnabend hatten etwa 60 Menschen vorübergehend den Südflügel besetzt, der für das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 abgerissen werden soll. CDU-Generalsekretär Strobl sprach von „Rechtsbruch und Straftaten“, die mit Friedenspflicht sicherlich nichts zu tun hätten. Den Besetzern drohen nach Angaben der Polizei bis zu einem Jahr Haft oder Geldstrafen. Grünen-Chef Cem Özdemir machte derweil erneut Front gegen das Projekt: „Stuttgart 21 ist kein Bahnprojekt, sondern eines von großmännischen Politikern, die die Bahn zuvor systematisch kaputt gemacht haben. Durch eine Politik, die einseitig auf den Börsengang gesetzt hat und auf einen Rückzug der Bahn aus der Fläche“, sagte er der Berliner „tageszeitung“ (Dienstag). Kretschmann forderte die SPD-Fraktion auf, den Weg für den Untersuchungsausschuss zu dem harten Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner frei zu machen. Sonst werde sich die SPD „immer weiter blamieren“.

Am Sonnabend hatte der SPD-Parteitag in Ulm die Fraktion zu einer härteren Gangart bei der Aufklärung des Einsatzes am 30. September im Schlossgarten mit vielen Verletzten aufgefordert. Ein SPD-Sprecher sagte, die Entscheidung werde am Dienstag bei der Fraktionssitzung fallen. Vor dem Landtag protestierten etwa 100 Demonstranten mit einem vier Meter langen Schaumstoffkrokodil – genannt „Mappus-Schnappus“ - gegen Stuttgart 21. Sie wollten dem Regierungschef mehr als 90.000 Unterschriften gegen das Projekt übergeben. Dieser hatte sich nach Angaben der Organisatoren aber geweigert, sich mit den Demonstranten zu treffen. Daraufhin skandierten die Protestler „Mappus weg“.