Finanzminister Wolfgang Schäuble, einer der Architekten der deutschen Einheit, zieht nach 20 Jahren Bilanz und sieht keinen Grund für Nörgelei.

Berlin. Er war Innenminister unter Helmut Kohl , als es nach dem Mauerfall um das Aushandeln der Wiedervereinigung ging: Wolfgang Schäuble (CDU) gilt als Architekt des Einigungsvertrags. Im Abendblatt-Interview blickt der Finanzminister auf 20 Jahre deutscher Einheit zurück und ist überzeugt: Auch in den Jahrzehnten der Trennung hatten die Deutschen in Ost und West eine gemeinsame Identität.

Derzeit befindet sich der Minister w egen gesundheitlicher Probleme im Krankenhaus . Der querschnittsgelähmte 68-Jährige wird wegen andauernder Probleme bei der Wundheilung für etwa vier Wochen ausfallen. Schäuble führt seine Amtsgeschäfte vom Krankenbett aus weiter . Wie sein Sprecher dem Abendblatt sagte, gehe es Schäuble den Umständen entsprechend gut. Kurz vor dem Klinikaufenthalt gab Schäuble dem Abendblatt dieses Interview.

Hamburger Abendblatt:

Herr Minister, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Wiedervereinigung als ein "Wunder" bezeichnet. Welchen Begriff verbinden Sie mit der deutschen Einheit?

Wolfgang Schäuble:

Die Tatsache, dass es möglich wurde, die Konfrontation und die Teilung Deutschlands friedlich und freiheitlich zu lösen, das erschien vielen unmöglich. Auch in den 80er-Jahren noch. Die Einheit Deutschlands ist friedlich, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, zustande gekommen. Und sie geschah in Einklang mit unseren Nachbarn. Das war schon ein Wunder. Und die Verwirklichung eines Traums für jeden, der in Zeiten der Teilung gelebt hat. So viel Glück haben wir in unserer Geschichte selten gehabt, und jetzt müssen wir uns gelegentlich daran erinnern.

Welchem Politiker haben wir am meisten zu verdanken? Helmut Kohl, George Bush, Michail Gorbatschow, Ihnen?

Schäuble:

Von dieser Titelvergabe halte ich nichts. Denken Sie an Danzig, an Lech Walesa, dort hat die Freiheitsbewegung ihren Anfang genommen. Ohne Michail Gorbatschow wäre es nicht zu der Wiedervereinigung, jedenfalls nicht friedlich, gekommen. Er wollte unter gar keinen Umständen eine Konfrontation der Weltmächte. Dass die Einigung ohne einen Weltkrieg gelungen ist, dazu haben viele einen großen Beitrag geleistet.

Sie haben den Einigungsvertrag vor 20 Jahren an maßgeblicher Stelle mit ausgearbeitet. Wer war Ihnen dabei die größte Hilfe?

Schäuble:

Ich vergebe keine Noten, das wäre ein Wettbewerb der Eitelkeiten. Das Jahr 1990 war natürlich in jeder Stunde unglaublich aufregend. Am 9. November 1989 war die Mauer gefallen, dann trat ein Prozess ein, bei dem man spüren konnte, dass er viel schneller verlaufen könnte. Aber Anfang 1990 wusste keiner, wie das gehen sollte. Als ich damals sagte, ich vermute, bei der nächsten Bundestagswahl würden wir schon in ganz Deutschland wählen, da bin ich noch offiziell gerügt worden. (lacht) Bei der Volkskammerwahl im März 1990 haben wir einen Wahlsieger erlebt, der erschrocken war, dass er jetzt die Verantwortung übertragen bekommen hat. In der Regierungserklärung sagte Lothar de Maizière dann noch, in zwei Jahren werde es eine Wiedervereinigung geben. Nun, es ging viel schneller.

Welche Fehler wurden in dem Einheitsprozess gemacht?

Schäuble:

Darüber nachzudenken bringt uns nicht viel. Im Wesentlichen haben wir es richtig gemacht. Eines der wichtigsten Dinge war die klare Entscheidung der Menschen in der DDR bei der Volkskammerwahl im März 1990: Sie wollten eine schnelle Einheit, keine neue Verfassung, kein neues Deutschland. Sie hatten von 40 Jahren Kommunismus und Eingesperrtsein die Schnauze voll. Meiner Meinung nach ist die Wiedervereinigung insgesamt gut gegangen, und daran haben viele einen Anteil: Lothar de Maizière, Richard Schröder - der dann von Oskar Lafontaine und Wolfgang Thierse gestürzt wurde -, Günther Krause: Sie alle haben schon unglaubliche Leistungen vollbracht. Das wird aber immer noch zu gering bewertet in unserer eher westdeutsch dominierten Sicht der Dinge.

Im Mittelpunkt stand damals - neben der Währungsunion - auch die Frage, wie man mit dem Ministerium für Staatssicherheit umgeht. War es klug, sich auf die MfS-Mitarbeiter und Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) zu konzentrieren und nicht auf die SED? Die Stasi war immerhin "Schwert und Schild" der Partei.

+++ Kommentar: Wider die Miesepeter +++

Schäuble:

Das müssen Sie diejenigen fragen, die damals in der DDR die Entscheidung hatten. Das Volk wollte, dass man die Stasi-Aufarbeitung so macht, wie es dann gemacht wurde. Auch die Volkskammer hatte dazu eine klare Entscheidung getroffen. Manche forderten damals ein Verbot der SED, aber die Mehrheit wollte dies nicht. In der DDR gab es nicht den geringsten Zweifel, dass die SED - damals hieß sie dann PDS, heute heißt sie Linke - an der Volkskammerwahl teilnehmen darf. Sie hat ja dann auch fast 20 Prozent der Stimmen bekommen.

Angesichts der vielen Verletzungen, die durch die Veröffentlichung von Stasi-Akten entstanden sind: Hätte man die Akten lieber wegschließen sollen?

Schäuble:

In Bonn hatten viele diese Überlegung, auch angesichts der Erfahrungen in anderen Ländern. Beispielsweise in Südafrika: Nelson Mandela hat dort gesagt, es gibt keine Rache. Aber die Menschen in der DDR wollten die Stasi-Aufarbeitung so und nicht anders - und diesen Willen respektiere ich.

Wie lange wird es die Stasi-Unterlagen-Behörde, die Birthler-Behörde, noch geben?

Schäuble:

Die Behörde leistet so gute Arbeit, dass ich keine Jahreszahl nennen möchte. Sie trägt ja auch dazu bei, dass die geschichtliche Aufarbeitung der Diktatur stattfindet.

Hat der Osten in den vergangenen 20 Jahren wirtschaftlich schnell genug aufgeholt?

Schäuble:

Es ist schwieriger geworden, als sich die meisten Menschen das 1990 vorgestellt haben. Das hat mit der veränderten Entwicklung in Europa und der Globalisierung zu tun. Die Euro-Krise, die wir in diesem Jahr hatten, ist ja auch nicht anders zu erklären.

Die Arbeitslosigkeit ist im Osten noch fast doppelt so hoch wie im Westen. Ist das also auch eine Folge der sich verändernden Welt?

Schäuble:

Ja auch. Aber es ist vor allem eine Folge von 40 Jahren Misswirtschaft und real existierendem Sozialismus ...

Und diese Folge ist noch immer sichtbar?

Schäuble:

Nun, wir haben die Missstände doch sehr stark abgebaut. Im September dieses Jahres wurden 3,031 Millionen Arbeitslose registriert. Damit liegen wir unter dem Niveau, das wir vor der Krise hatten. In den neuen Bundesländern haben wir übrigens einen stärkeren Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Dort sind es zehn Prozent, in den alten Bundesländern sieben Prozent. Das zeigt, dass der Abstand zwischen den neuen und den alten Ländern kleiner wird. Wir sind auf einem guten Weg.

Vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Solidaritätsbeitrag verfassungsgemäß ist. Wie lange wird man denn den Soli noch brauchen?

Schäuble:

Der Solidarpakt ist gesetzlich festgelegt bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags steht auch gar nicht zur Debatte.

Der Aufbau Ost wird also weiter gebraucht?

Schäuble:

Wir haben das alles klar geregelt - auch den Soli. Das muss man nicht alle vier Wochen wieder neu zur Diskussion stellen. Damit verunsichert man nur die Menschen.

Ostdeutschland hat in den vergangenen 20 Jahren 1,8 Millionen Menschen verloren: Viele junge, gut ausgebildete Menschen, viele junge Frauen sind gegangen. Was ist da schiefgelaufen?

Schäuble:

Wenn Sie sich anschauen, wie viele Menschen in Deutschland von Nord nach Süd umgezogen sind, da kommen Sie auch auf enorme Zahlen. Wir haben eine mobile Gesellschaft, was soll da schiefgelaufen sein?

Reden Sie die Lage nicht schön? Brandenburg wird geradezu entvölkert und in einigen Jahren wohl weniger als zwei Millionen Einwohner haben. Es gibt die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost- und Westländern.

Schäuble:

Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse in Brandenburg so wie in Sachsen?

Nein.

Schäuble:

Sie suchen nach Problemen, aber man muss sich die Lage genau anschauen. Wir haben Probleme in der wirtschaftlichen Entwicklung in einigen Bundesländern, das bestreite ich ja gar nicht. Aber wir haben auch unterschiedliche Bevölkerungsdichten oder Verkehrsanbindungen. Das ist wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung. Und es gab eben 40 Jahre Misswirtschaft in der DDR. Die meisten Unternehmen waren nicht wettbewerbsfähig, deshalb sind sie auch nach der Wiedervereinigung weggefallen. Wichtig ist jetzt, wie es in Europa weitergeht. Wenn Polen, Ungarn, der Balkan weiter aufholen, dann rücken auch die ostdeutschen Länder wieder mehr ins Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung.

Helmut Kohl hat 1990 "blühende Landschaften" versprochen? War das naiv?

Schäuble:

Nein. Wer weiß, wie die DDR vor 1990 ausgesehen hat, weiß, was er gemeint hat. Die Häuser in der DDR waren alle grau, die Gesichter der Menschen auch - als Folge einer schlechteren Ernährung, einer schlechteren medizinischen Versorgung, einer katastrophalen Umweltpolitik. Ich lasse mich deshalb übrigens nicht von den Linken über Umweltpolitik belehren. Und: Helmut Kohl wollte den Menschen Mut machen.

Gibt es in Deutschland eine gemeinsame Identität?

Schäuble:

Die hatte Deutschland immer. Schauen Sie nach Korea: Die Menschen in Süd- und Nordkorea haben seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. Die Menschen in der DDR aber hatten immer Kontakt zum Westen. Nach Feierabend haben die Menschen in der DDR immer West-Fernsehen gesehen, später gab es sehr viel mehr Reiseverkehr. Die Verbindungen zwischen den Menschen sind immer sehr intensiv gewesen. Und deshalb ist auch aus dem Ruf "Wir sind das Volk" der Ruf "Wir sind ein Volk" geworden.

Dann muss die Politik also nichts mehr tun für die deutsche Einheit, für das Zusammenwachsen ...

Schäuble:

Die Politik muss dafür sorgen, dass die Solidarität erhalten bleibt - gerade in Zeiten der Globalisierung. Wir müssen beispielsweise für einen Ausgleich zwischen denjenigen, die einen Job haben, und denen, die keinen haben, sorgen. Aber das gilt auch für den Länderfinanzausgleich oder für die wirtschaftliche Leistungskraft.

Wir erinnern uns an den 9. November 2009. Es war ein sehr emotionaler Tag, auf den sich alle gefreut haben. Beim 3. Oktober in diesem Jahr hat man nicht das Gefühl. Ist der 3. Oktober das falsche Datum?

Schäuble:

Ach, das höre ich jedes Jahr. Und wenn der 3. Oktober dann da ist, wird kräftig gefeiert. Natürlich ist der 9. November emotional mehr aufgeladen als der 3. Oktober. Aber deshalb wird doch nicht weniger gefeiert. Auch den 3. Oktober 1990 habe ich als sehr emotionales Ereignis in Erinnerung, damals waren mehr als eine Million Menschen am Reichstag, um mit uns den Vollzug der deutschen Einheit zu feiern.

20 Jahre nach der deutschen Einheit haben in Bonn immer noch fünf Ministerien ihren Hauptsitz. Müssten die Ministerien nicht längst umziehen?

Schäuble:

Die Entscheidung im Jahr 1991 für Berlin als Sitz von Regierung und Parlament war hoch umstritten. Ich habe dafür geworben und bin dafür heftig angefeindet worden. Damals gab es klare Vereinbarungen für Bonn, das von dem Umzug von Regierung und Parlament stark betroffen war. Und diese Verträge sind bindend. Ich werde nicht derjenige sein, der diese Verträge infrage stellt. Das ist nicht mehr meine Rolle. Das sollen andere machen, wenn sie dafür Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat organisieren können.

Herr Schäuble, was wünschen Sie sich für Deutschland?

Schäuble:

Ich wünsche mir, dass wir begreifen und uns wieder und wieder klarmachen, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern und zu Generationen vor uns so viel Glück haben. Dass wir diese Grundstimmung von Nörgelei gar nicht nötig haben. Ich wünsche mir auch, dass wir begreifen, dass die Welt niemals stillsteht. Das wäre furchtbar für die Menschen. Wir müssen wieder und wieder die Kraft haben, uns den Veränderungen anzupassen. Ich möchte nicht, dass einmal in den Geschichtsbüchern stehen wird: "Die Deutschen hatten die Chance, aber sie haben sie verspielt."