Im Westen angekommen: Wie war das damals auf dem Weg in die Freiheit? Neun aus der DDR stammende Abendblatt-Mitarbeiter erinnern sich an ihre Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen

Den Tag der Maueröffnung erlebte ich als Neu-Hamburger. Wenige Wochen zuvor war ich über die ungarisch-österreichische Grenze in die Freiheit gelangt. Bekannte aus Hamburg, auf deren Hilfe ich nach meiner Ankunft im Westen gehofft hatte, wiesen mich ab. In der Bahnhofsmission drückte mir jemand einen Zettel mit der Adresse der "Marco Polo" in die Hand. Das war eine jugoslawische Personenfähre, die die Hamburger Sozialbehörde angemietet hatte, um der wachsenden Flut der Flüchtlinge aus Osteuropa, auch aus der DDR, Herr zu werden. So wurde Neumühlen 15 in Altona meine erste Postadresse. Auf dem Schiff teilte ich mir mit einem sächsisch sprechenden Zahnarzt, der auch über Ungarn geflüchtet war, einige Wochen eine winzige Kabine. Ich habe ihn später nie wiedergesehen.

Die Ereignisse des 9. November verfolgten wir im Fernsehraum. Ich war angesichts meiner Situation und der Erlebnisse der Wochen zuvor nicht in der Lage, Freude darüber zu empfinden. Wenige Tage später war Hamburg übervoll von aufgekratzten Leuten auf Schnäppchenjagd - darunter viele von denen, vor denen ich Wochen zuvor geflüchtet war. Sie standen Schlange nach dem Begrüßungsgeld, bekamen Rabatt in den Etablissements an der Reeperbahn und ließen sich freiwillig mit Bananen und Schokolade bewerfen.

Etwa 14 Tage später - mein neuer Arbeitgeber hatte mich für einige Tage im Hotel Baseler Hof einquartiert - besuchten mich meine Eltern in Hamburg. Eine Hotelübernachtung wäre für sie unbezahlbar gewesen, so kamen sie bei einem jungen Paar in dessen kleiner Wohnung in Harburg unter. Die beiden hatten sich, wie viele Hamburger, an einer Aktion des Abendblatts beteiligt: Privatquartiere für Hamburger Gäste, die aus der DDR anreisten, gesucht!

An zwei Abenden saßen wir mit den jungen Leuten in ihrem Wohnzimmer und erzählten aus unseren Leben, die so erstaunlich vieles gemeinsam hatten - auch die Erfahrung, wie wichtig es ist, in schwierigen Situationen Menschen zu treffen, die zu teilen bereit sind. Die Begegnung mit den Harburgern ist mein Wiedervereinigungs-Erlebnis.

Mein Beruf führte mich noch im Dezember des Jahres in den Süden Deutschlands. Nach meiner Rückkehr nach Hamburg, zehn Jahre später, waren Name und Adresse der Harburger leider vergessen. An die wärmende Atmosphäre ihres Wohnzimmers erinnere ich mich aber jedes Jahr, wenn der November naht.