Im Westen angekommen: Wie war das damals auf dem Weg in die Freiheit? Neun aus der DDR stammende Abendblatt-Mitarbeiter erinnern sich an ihre Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen

14 Tage nachdem ich Leipzig verlassen hatte und Bundesbürger geworden war, betrat ich an einem eiskalten Januartag 1990 zum ersten Mal die Abendblatt-Redaktion. Ziemlich beklommen durchschritt ich die Eingangshalle des Verlags, die ich mir allerdings pompöser vorgestellt hatte. Schließlich galt der Verlag Axel Springer in der DDR als "Hauptquartier des Klassenfeindes". Der damalige Abendblatt-Chefredakteur Peter Kruse nahm sich eine ganze Stunde Zeit für mich, fragte mich nach meinem Leben und war über die DDR erstaunlich gut informiert.

Kurz darauf stand ich in einem verrauchten Großraumbüro vor dem damaligen Feuilleton-Chef Helmut Söring, der in seinen Papieren wühlte und mich nach dem DDR-Schriftsteller Christoph Hein fragte. Ob ich etwas über den schreiben könne, der habe eine Lesung in Hamburg. Wann das denn sei, fragte ich. "In drei Stunden in der katholischen Akademie." Mir wurden die Knie weich, denn meine journalistischen Erfahrungen beschränkten sich auf die freie Mitarbeit bei DDR-Kirchenzeitungen.

Ich fragte mich zum Herrengraben durch und saß am Abend pünktlich in der Lesung von Christoph Hein, dessen Bücher ich alle gelesen hatte. Anschließend begann ich noch in der S-Bahn meinen Artikel zu schreiben, fand die Nacht keinen Schlaf und setzte mich schon um 5 Uhr morgens an meine DDR-Reiseschreibmaschine Erika. Ich hatte keine Ahnung, was genau von mir erwartet wurde, aber ich schrieb. Am Vormittag gab ich den Text per Telefon durch. Danach wartete ich auf einen Rückruf der Redaktion. Um eins wurde ich unruhig. Um drei war ich nervös. Um fünf begann ich zu verzweifeln. Um sieben war mir klar, dass ich den Anforderungen des Westens wohl nicht gewachsen sein würde. Der Text war offenbar so schlecht, dass die Redaktion es nicht einmal für nötig hielt, ihn höflich abzulehnen.

Tags darauf stand mein Artikel groß im Abendblatt mit der Zeile: "Wir haben so wenig Erfahrung: DDR-Autor Hein über Demokratie, Neonazis und Wiedervereinigung". Ich spürte, dass das für mich kein schlechter Anfang war in einer Zeit, in der so viel zu Ende ging und so vieles neu begann.