Im Westen angekommen: Wie war das damals auf dem Weg in die Freiheit? Neun aus der DDR stammende Abendblatt-Mitarbeiter erinnern sich an ihre Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen

1989 war ich 19 Jahre alt und arbeitete als Schriftsetzer in der Akzidenzdruckerei der Tageszeitung "Freies Wort" in der thüringischen Kleinstadt Ilmenau. "Freies Wort" - der Name war natürlich keineswegs Programm, das Blatt war bis dahin eine sozialistische Parteizeitung mit komplett linientreuen Inhalten.

"Freies Wort - wenn man was sagt, kommt man fort" war ein überhaupt nicht linientreuer Reim, den eines Abends im Spätsommer 1989 ein zu Scherzen aufgelegter Ilmenauer ins offene Fenster der Setzerei rief. Gemeint war die Gefahr, im Gefängnis zu landen, wenn man seine Gedanken wirklich frei äußert.

Nicht amüsiert über den Spruch war ein Kollege aus dem Maschinensatz, der auch als Gewerkschaftsboss fungierte. Er rannte zum Fenster, konnte den Rufer im Dunkeln aber nicht mehr ausmachen. Wir alle wussten vom "Nebenjob" des Kollegen. Er war nicht nur Gewerkschaftsboss, sondern auch stadtbekannte Stasi-Petze! Ist die Verquickung von Gewerkschaft und SED beziehungsweise Gewerkschaft und Staatssicherheit eigentlich schon aufgearbeitet worden? Ich fand sie besonders widerlich. Ich kannte Gewerkschaft gar nicht anders. Gewerkschafter, das waren welche von "denen". Das war für mich selbstverständlich.

Besagter Kollege aus dem Maschinensatz war ein freundlicher älterer Herr, der gerne schwatzte und noch lieber zuhörte. Er verstärkte zur Wendezeit sein Engagement für "die Sache" noch, ging nun statt einmal sogar zweimal wöchentlich mit seinem dicht beschriebenen Notizblock zum Rapport in die Chefetage. Keiner durfte fragen, was er dort tat, aber alle wussten es. Während seiner Audienzen tauschten wir übrigens besonders freie Worte aus.

In den Monaten danach - der Sozialismus kaputt, das "Freie Wort" endlich frei - kauften er und eine Riege linientreuer Kollegen die Druckerei und gründeten eine GmbH. Mit minderem Erfolg offenbar, heute beherbergt das Gebäude die Filiale einer großen Bank.