Spekulationen um eine Kanzlerkandidatur gibt es bei den Grünen noch nicht. Doch sie sehen sich bereits als Hauptgegner der CDU.

Hamburg. Der nicht enden wollende Höhenflug der Grünen in den Umfragen hat in der Partei ein neues Selbstverständnis ausgelöst. Erstmals rückte Fraktionschef Jürgen Trittin die Grünen in die Rolle des neuen Oppositionsführers. In den nächsten Wahlkämpfen werden sich seiner Ansicht nach nicht mehr CDU und SPD als Hauptgegner gegenüberstehen, sondern CDU und Grüne. Die Zeiten, in denen man sich als Juniorpartner und Korrektiv der SPD verstand, sollen offenbar endgültig vorbei sein. Wäre diesen Sonntag Bundestagwahl, kämen die Grünen auf 24 Prozent. Laut Forsa haben die Grünen damit erstmals bundesweit mit der SPD gleichgezogen.

Grünen-Vorsitzende Claudia Roth will nun nicht mehr von Rot-Grün sprechen, wenn es um mögliche Bündnisse mit der SPD geht. Sie sagte dem Abendblatt: "Die Wählerinnen und Wähler wollen Grün und Rot statt Schwarz und Gelb, das wird immer deutlicher." Aber man hebe deshalb nicht ab oder spekuliere etwa "über Konsequenzen in noch ferner Zukunft". Die Konsequenzen in ferner Zukunft, die Roth meinte, würden bei einer gleichbleibenden Stärke die Frage einer Kanzlerkandidatur betreffen. Noch will beim grünen Spitzenpersonal niemand das K-Wort in den Mund nehmen. "Stimmungen sind keine Stimmen. Der Weg zu guten Wahlergebnissen im nächsten Jahr ist noch lang und wird ein gutes Stück harte Arbeit", warnte die Parteichefin. Auch Schleswig-Holsteins Grünen-Fraktionschef Robert Habeck warnt vor Euphorie. "Demut ist das Geheimnis des Erfolgs", sagte er dem Abendblatt. "Die Grünen dürfen nicht abheben, sondern müssen konzeptionell arbeiten und tun es." Der Rest komme von allein. Angesprochen auf die Möglichkeit eines grünen Kanzlerkandidaten, sagte Habeck: "Von der FDP zu lernen heißt, es nicht wie die FDP zu machen." Der Grünen-Politiker fürchtet, dass seine Partei genauso unsanft auf dem Boden der Realitäten landen könnte wie einst FDP-Chef Guido Westerwelle, der sich 2002 zum Kanzlerkandidaten ausrief und sich am Ende mit 7,4 Prozent zufriedengeben musste.

Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Emnid, ist dagegen überzeugt, dass die Partei bei einem weiteren Wachstum langfristig über einen Kanzlerkandidaten nachdenken müsste. "Die Benennung eines eigenen Kanzlerkandidaten ist in Deutschland traditionsgemäß Aufgabe der Volksparteien. Das sind die Grünen noch nicht", sagte er im Abendblatt. "Aber ab 25, 26, 27 Prozent wäre das ein realistisches Szenario."

Laut Schöppner sammeln die Grünen zurzeit Wähler aus allen Parteien ein. Der Grund sei einfach: "Während die anderen Parteien als Klientelparteien gelten, SPD und Linke dem Gewerkschaftslager zugerechnet werden, die Regierungsparteien der Wirtschaft, positionieren sich die Grünen in der Mitte." Die Partei gelte jetzt als Interessenverwalter der Bürger, als Partei der Bürgerversteher. "Das ist das grüne Geheimnis." Die in Hamburg mitregierende GAL profitiert auch nicht vom Bundestrend. Hier lagen die Grünen zuletzt in einer Umfrage bei 10 Prozent.

Fraktionschef Trittin gibt sich angesichts des Stimmungshochs dennoch provokanter und selbstbewusster als seine Parteifreunde. Er habe "mit Interesse" zur Kenntnis genommen, dass CDU-Chefin Angela Merkel die Grünen von Atom bis Stuttgart 21 als ihren eigentlichen Gegner sehe, sagte Trittin der "Rheinischen Post". Diese Herausforderung nehme seine Partei gerne an. Sollten die Grünen bei künftigen Wahlen, etwa in Berlin oder Baden-Württemberg, mehr Stimmen bekommen als die SPD, beantworte sich die Führungsfrage von selbst. Der Stärkere stelle den Regierungschef. "So einfach ist das."

Vor einem Jahr hatte noch leichte Krisenstimmung bei den Grünen geherrscht. Der Stimmenanteil von 10,7 Prozent bei der Bundestagswahl war zwar bis dahin der beste Wert auf Bundesebene gewesen. Man wurde dennoch nur fünftstärkste Kraft. Jetzt steht die Partei auf Höhe der Sozialdemokaten.