Obwohl auch in seinem ehemaligen Bistum Missbrauch vorgekommen ist, hat sich Papst Benedikt XVI. bislang nicht geäußert.

Hamburg. Der Vatikan erscheint oft wie eine eigene Welt, abgeschottet von der Realität. Doch manchmal holt ihn die Realität ein. Jetzt ist der Missbrauchsskandal der deutschen katholischen Kirche im Vatikan angekommen. Sogar bei Papst Benedikt XVI. persönlich.

Es geht um einen Missbrauchsfall aus der Zeit, in der Joseph Ratzinger Erzbischof von München und Freising war. 1980 soll er zugestimmt haben, dass ein bekanntermaßen pädophiler Priester aus dem Bistum Essen in seine Diözese kommt. Der Priester verging sich wieder an Jugendlichen.

Es sind Fälle wie dieser, die seit Januar fast täglich an die Öffentlichkeit gelangen. Seitdem Dutzende Verdachtsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurden, fühlen sich Opfer der zum Teil Jahrzehnte zurückliegenden Übergriffe nicht mehr als Einzelfall. Seitdem reden sie und zeichnen ein Bild von einem System des Schweigens und Vertuschens.

Horst Burghardt war in den 70er-Jahren Schüler im Internat Ettal. "Meine Zeit dort war der Horror", sagt der heute 45-Jährige. Sein Klassenlehrer, Pater L., habe ihn bei schlechten Leistungen mit Kopfnüssen attackiert und ihn an den Haaren durch den Schulflur geschleift. Einmal, als sich der Junge über das Essen beschwerte, verdrosch ihn L. mit dem Kuttengürtel. Zehn Minuten lang, bis der Lehrer nicht mehr zuschlagen konnte. Danach musste Burghardt zum Abt, der schlug mit einer Kleiderbürste zu. Eine Woche gab es für den Schüler nur Wasser und Brot.

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Die Mitschüler waren Teil des Gewaltsystems, so Burghardt. Pater L. ertappte ihn dabei, wie er aus dem Fenster schaute. "Der Pater sagte zur Klasse: ,Alle schreiben jetzt 100-mal auf Latein in ihr Heft: Du sollst nicht aus dem Fenster schauen. Bedanken kann sich die Klasse bei dem Schuldigen. Die nächste Freistunde ist gestrichen.'" Kaum war der Pater draußen, fielen die Mitschüler über Burghardt her, um sich für die Kollektivstrafe zu rächen. "Nicht nur die Pater sind schuldig, auch viele Mitschüler, die dieses System viele Jahre mitgemacht haben", sagt Burghardt.

Er sei völlig abhängig gewesen. Pater L., der ihn schlug, war auch sein Beichtvater. Mitschüler petzten, dass Burghardt sich heimlich Marmelade gekauft hatte. Weil er das nicht beichtete, gab es wieder angeordnete Klassenkeile. Er habe sich jeden Tag in den Schlaf geweint, sagt er heute.

Der Münchner Rechtsanwalt Thomas Pfister ist vom Kloster Ettal zum Sonderermittler ernannt worden. Etwa 100 Opfer haben sich schon bei ihm gemeldet, sie beschuldigen zehn Mönche des Missbrauchs. Pfister recherchierte, dass beim Vertuschen der Taten ausgerechnet die Beichte eine wichtige Rolle einnahm: "Die Patres haben sich gegenseitig die Beichte abgenommen", sagt er. "Auf der einen Seite erlangten sie so Vergebung von Gott. Auf der anderen Seite schalteten sie den anderen als Zeugen aus." Das Beichtgeheimnis schützt vor Ermittlungen. "Mit der Beichte war die Tat beerdigt", sagt Pfister.



Hinzu kam, dass die zehn prügelnden Mönche eine starke Stellung im Kloster hatten. Hätte einer der Mitbrüder sein Schweigen gebrochen, wäre er der Nestbeschmutzer gewesen. Viele der Mönche waren früher selbst Schüler in Ettal. Pfister hat einen Brief von einem ehemaligen Pater bekommen. Der Mann schreibt: "Ich habe in Ettal meinen Glauben verloren. Alle wussten es. Es wurde offen praktiziert."

Pfister deckte auch auf, wie fahrlässig die Kloster- und Schulleitung agierte. Da ist der Fall des Paters M.: Der Mann fiel schon 1969 auf, weil er mit Schülern duschte. Er wurde vom Schuldienst ausgeschlossen, kehrte aber 1973 zurück. Im Jahr 1984 kam es zu einem neuen Vorfall, aber Pater M. musste nur zwölf Monate Pause machen. Der Mönch war bis 2003 in Ettal. Im Januar dieses Jahres, ein halbes Jahr nach seinem Krebstod, stießen Mitbrüder auf der Festplatte seines Computers auf eine Datei mit dem Namen "Bekennen". Detailliert hatte Pater M. aufgelistet, wie er Jungen sexuell missbraucht hatte. "Er hat selbst geschrieben, dass er ein Fall für den Staatsanwalt sei", sagt Pfister. Doch der Fall blieb hinter Klostermauern. Bis jetzt.

Genauso wie der Fall des Paters G.: Er hatte 2005 einen weinenden Unterstufenschüler im Beisein der Klasse auf den Schoß genommen und derart intim an Armen, Rücken, Kopf und Oberschenkel berührt, dass sich seine Eltern beim Ettaler Abt und dem Schulleiter beschwerten. Der Pater wurde nach Sachsen versetzt - ausgerechnet in ein Jugend- und Familienhaus. Erst als jetzt alles herauskam, wurde er suspendiert.

Der Abt und der Schulleiter in Ettal hatten die Taten von Pater M. und Pater G. nicht an die Diözese gemeldet. Auch sie mussten nun zurücktreten.

Doch bedeutet das wirklich einen Neuanfang? Der neue Schulleiter spielt Gewalt gegen Schüler herunter. Kopfnüsse, die ein Lateinlehrer bis zuletzt verteilte, seien nur Spaß gewesen.

Wie leichtfertig die Kirche mit pädophilen Priestern umgeht, zeigte sich im Bistum Regensburg. Der Pfarrer Peter K. war vorbestraft, weil er im niederbayerischen Viechtach zwei Jungen sexuell missbraucht hatte. Er wurde versetzt, doch schon während seiner Bewährungszeit arbeitete er wieder in der Jugendseelsorge. Danach setzte ihn das Bistum 2004 wieder als Pfarrer ein, in der kleinen Gemeinde Riekofen. Dort wusste niemand von seiner Vorgeschichte. Der Mann missbrauchte erneut einen Jungen - jahrelang- und kam vor Gericht. Während des Prozesses kam heraus, dass ein Gutachter ihn nach der ersten Tat als hochgradig pädophil und wiederholungsgefährdet eingestuft hatte. Das Bistum wusste davon - und hatte es sogar in die Personalakte des Pfarrers eingetragen. Der Pfarrer wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, er sitzt jetzt in der Psychiatrie.

Der Richter warf dem Regensburger Bistum vor, es habe den Priester "in eine Versuchungssituation" geführt. Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller wies jede Schuld von sich. Dabei hatten sich die deutschen Bischöfe schon 2002 Leitlinien zum "Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche" auferlegt. Demnach hätte Müller den Pfarrer nie mehr in Bereichen einsetzen dürfen, in denen er mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatte.

Müller reagierte auch jetzt unsensibel, als Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen öffentlich wurden: In einer langen Erklärung beschwerte er sich über "antikatholische Kampagnen" - über die Verantwortung der Kirche schwieg er sich aus.

Georg Ratzinger, Bruder des Papstes und langjähriger Leiter der Domspatzen, entschuldigte sich immerhin dafür, dass er nichts gegen das Prügelsystem unternommen hat. Von den sexuellen Missbrauchsfällen, die es auch in den 90er-Jahren noch gegeben haben soll, will er aber nichts gewusst haben.

In den Leitlinien der Bischöfe heißt es: "Die Fürsorge der Kirche gilt zuerst dem Opfer." Vielerorts scheint es, dass die Fürsorge zuerst dem Täter gilt, kritisiert Bernd Göhrig von der Organisation "Kirche von unten": "Die Würde des geweihten Mannes wird höher bewertet als die Würde des Opfers."

Dass an den Anlaufstellen der Bistümer für Missbrauchsopfer meist Priester sitzen, wird von kircheninternen Kritikern bemängelt. Sie fordern, dass die Geistlichen durch unabhängige Ärzte, Juristen oder Therapeuten ersetzt werden sollen. Christian Weisner von der Organisation "Wir sind Kirche" sagt: "Man rennt als Einzelperson gegen eine Organisation an. Das Bistum hat immer Leute, die hauptberuflich dazu da sind, Schadenersatzansprüche abzuwimmeln."

Und dann ist da die Frage nach den Eltern. Sonderermittler Pfister sagt, dass sich die Patres vor allem Schüler ausgesucht hätten, die wenig Rückhalt in ihren Familien hatten. Hinzu kam, dass Geistliche früher unantastbar waren - und dass Prügeln als Erziehungsmittel weitgehend akzeptiert war.

"Ich habe mit meinen Eltern nicht darüber geredet", sagt auch das Ettaler Gewaltopfer Horst Burghardt, der sein Verhältnis zu seinen Eltern als gut bezeichnet.

Als Glück sieht es Burghardt an, dass er Ettal wegen schlechter Leistungen verlassen musste. Auf seiner nächsten Schule wurde er verhaltensauffällig, seine Eltern schickten ihn zum Psychologen. Mit ihm konnte er das aufarbeiten, was er in Ettal erlebt hat. Auch mit seinen Eltern konnte er damals erstmals über die Vorkommnisse sprechen. "Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir geglaubt haben. Sie gingen eher davon aus, dass ich mir diese Geschichten ausgedacht habe."

Das Elite-Denken der Eltern ist es auch, das der Aufklärung im Weg steht. Viele von ihnen sind selbst Ehemalige, sehen sich als Teil der Klostergemeinschaft. Vor einer Woche eilten viele Ehemalige nach Ettal, um der zurückgetretenen Schulleitung ihre Solidarität zu versichern. Für die Opfer muss es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.