Vier Monate lang kam Pfarrerin Annegret Wirges nicht aus dem Tarnfleckanzug heraus, beschränkte sich ihr Bewegungsradius auf die zwei Quadratkilometer des Militärcamps in Masar-i-Scharif.

Saarlouis/Masar-i-Scharif. Die erste deutsche Militärseelsorgerin im Afghanistan-Einsatz teilte das Leben der etwa 2.000 deutschen Soldaten, für die sie Gottesdienste und Andachten hielt und denen sie in Gesprächen beistand. Seit Ende November ist die Theologin wieder in Deutschland, voll mit Geschichten über Alltag und Grenzerfahrungen in einem Krieg, der offiziell eigentlich keiner ist. Ihr Resümee überrascht. Ihr Afghanistan-Einsatz, sagt sie, sei eine „wichtige Aufgabe und erfüllende Erfahrung“ gewesen. Jederzeit würde sie noch einmal hingehen.

Die groß gewachsene 48 Jahre alte Theologin mit den kurzen roten Haaren und der ruhigen Ausstrahlung fühlt sich nicht zu politischen Statements und Appellen zur Afghanistan-Politik der Bundesrepublik, der Bundeswehrmission und der Militärseelsorge berufen. Annegret Wirges hat sich während ihrer Zeit in Afghanistan mit den Soldaten eng verbunden gefühlt – auch und gerade in den unzähligen Diskussionen über den umstrittenen Luftschlag auf die beiden Tanklaster in Kundus und dem gemeinsamen Kopfschütteln darüber, „was Presse und Politik in Deutschland daraus machen“. Solange dieser Einsatz läuft, müssen sich die Soldaten wehren können, betont die Militärseelsorgerin.

Nach mehr als hundert Tagen in Afghanistan seien ihre eigene Vorstellung über Richtung und Ziel des deutschen Einsatzes „diffuser und konfuser als zuvor“, bekennt sie. Die Frage, ob und wie diesem weitläufigen, unübersichtlichen Land zu helfen sei, könne sie heute weniger beantworten als vor ihrem Aufenthalt. Die Verwirrung wurde durch die Wahlen verstärkt, bei denen im November Amtsinhaber Hamid Karsai trotz Fälschungen zum Sieger erklärt wurde. „Da fehlte jedes Signal, dass es einen Reformwillen im Land gibt“.

Doch solange deutsche Soldaten im Land sind, sei es wichtig, dort Seelsorge zu leisten. Im Camp Marmal, wo die Soldaten der internationalen Schutztruppe ISAF stationiert sind, herrscht anders als in Kundus keine ganz akute Bedrohungssituation. In der afghanischen Wüste, wo die Temperaturen im Sommer auf über 50 Grad Celsius klettern und im Winter Eiseskälte herrscht, war es Annegret Wirges wichtig, den Soldaten eine kirchliche Heimat zu bieten, „Normalität in einer unnormalen Situation“.

Doch auch für einen Pfarrer sieht Normalität im Camp Marmal ganz anders aus als zu Hause in einer Gemeinde: mit überfüllten Sonntagsgottesdiensten und gut besuchten täglichen Abendandachten. Viele Soldaten, die zu Hause keine Kirchgänger seien, suchten im Einsatz die spirituelle Ansprache, stellte die Pfarrerin fest. Gewollt sei ein Ruhepunkt, ein Ort der Besinnung, der einen kurzzeitigen Rückzug aus dem militärischen Alltagstrott erlaubt. Ein Raum mit einer Atmosphäre, wo existenzielle Fragen möglich sind.

Zu den vertrauten kirchlichen Elementen in der afghanischen Wüste gehörte der Bläserchor des Camps, genauso wie ein neu gegründeter Kirchenchor unter Leitung der Pfarrerin. Es kamen auch Soldaten ohne jede Vorerfahrung mit Kirche und Chor, die dennoch mehr suchten als eine Abendbeschäftigung. „Eine Gemeinschaft zu bieten, die sich aus einem anderen Sinn konstituiert“, war für die Theologin eine bewegende Erfahrung. Immer wieder standen Soldaten vor ihrer Tür und sagten: „Ich muss mal reden“. Mit ihnen ging Annegret Wirges in die Kapelle, zündete eine Kerze an und nahm sich Zeit für ein Gespräch. Meist drehte es sich um aufwühlende Nachrichten von zu Hause, um Todes- oder Unglücksfälle, bisweilen auch um den Sinn des Einsatzes. Und oft entstand in diesen Situationen ein Ort der Ruhe mit viel Raum für Fragen, für Sehnsüchte und Zweifel.