Die Professorin räumt mit einem Vorurteil auf: Soziale Not hat viele Gesichter. Jeder Fall ist anders und braucht individuelle Hilfe, bei der der Staat aber oft an seine Grenzen stößt.

Hamburg. Die kleine Sina (3) hat eine Entwicklungsverzögerung: Während der Geburt litt sie kurze Zeit unter Sauerstoffmangel. Sie bräuchte therapeutische Hilfe - aber jeden Kostenzuschuss muss die arbeitslose Mutter von ihrer Krankenkasse erstreiten.

Die Mutter von Yusuf (5) hat im Iran einen Hochschulabschluss gemacht, bevor sie mit ihrem Sohn nach Deutschland flüchtete. Sie sucht händeringend Arbeit - aber sie bekommt keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, daher keinen Kitaplatz und kann sich aus ihrer Situation nicht befreien.

Fast jedes vierte Kind, das in Hamburg aufwächst, ist heute abhängig von staatlicher Unterstützung. Das sind 23 Prozent, im Jahr 2003 waren es noch 15 Prozent. Offiziell haben diese Kinder zwar eine "Grundsicherung" zum Leben. Aber die sieht in den einzelnen Familien sehr unterschiedlich aus. Wo jeder Euro doppelt zählt, entstehen Nöte, die andere nicht kennen. Welche Ressourcen und Kompetenzen gibt es in diesen Familien? Brauchen sie differenziertere, flexiblere Hilfen, um ihre eigene Kraft zu stärken?

Die Gießener Soziologin Uta Meier-Gräwe, Professorin für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbrauchsforschung, hat sich mit dieser Widerstandskraft ("Resilienz") in einer Studie genauer beschäftigt - und sie ging in den Nahbereich. Sie besuchte Familien zu Hause, fragte nach Einkommen, Bildungsstand, Gesundheit. Was passiert im Haushalt, wie gestaltet die Familie ihre Zeit, wie sieht es in Wohn- und Kinderzimmern aus, gibt es Fürsorge und Zusammenhalt?

Für manche ihrer begleitenden Studentinnen seien die Begegnungen schockierend gewesen, sagt die Forscherin. Sie hätten nicht gedacht, dass auf ein 13-jähriges Kind in einem Hartz-IV-Haushalt pro Tag nur 2,71 Euro für Frühstück, Mittag- und Abendessen entfallen.

Meier-Gräwes Erhebung zeigt, dass es "die" armen Haushalte nicht gibt. Sie beschreibt verschiedene Typusgruppen in unterschiedlichen Lagen mit einem spezifischen Hilfe- und Beratungsbedarf - drei haben wir unten skizziert.

Die Schlussfolgerungen der Sozialwissenschaftlerin: Die bisher voneinander getrennten "Säulen" der sozialen Hilfe - Jugendamt, Jugendhilfe, Kinderärzte, Kitas, Schulen, Sozialamt und Familiengerichte - sind zu wenig vernetzt und werden den Bedarfslagen oft nicht gerecht.

Wer staatliche Hilfe beantragen muss, gerät in einen schlecht koordinierten Ämterdschungel.

Das Denken in den Ämtern muss sich ändern. Meier-Gräwe: "Wir haben in den Interviews viele Beispiele für völlig unangemessene Reaktionen auf den Ämtern gehört. Die Fallbearbeiter hatten die 'verwahrloste Familie' im Blick und haben nicht gesehen, dass andere nur punktuelle Hilfen brauchten." Etwa wenn die Kinder eine Lebensmittelallergie haben und Sonderkost brauchen. Oder wenn eine Alleinerziehende ins Krankenhaus muss. Gibt es Zuschüsse zur Zahnspange des Kindes? Wer hilft, einen Haushaltsplan aufzustellen, damit man sich nicht verschuldet?

Wer Unterstützung erhält, muss schon den geringsten Zuverdienst angeben und gerät in einen bürokratischen Dauerstress. "Das ist demotivierend", sagt Meier-Gräwe. "Diejenigen, die gar nicht erst arbeiten, fragen: Warum machst du dir wegen 50 Euro mehr so viel Stress? Das konterkariert die hochtrabenden Worte vom 'aktivierenden Sozialstaat'." Selbsthilfe wird nicht belohnt, sondern erschwert.

In Familien, die am Rand der Verwahrlosung leben, kann nur eine sehr arbeitsintensive Begleitung inner- und außerhalb des Haushalts die Kinder schützen. Überlastete Familienbetreuer und zu große Kita-Gruppen wirkten sich fatal aus. Denn die Kinder haben fast nur außerhalb der Familie Entwicklungschancen. Meier-Gräwe: "Hier muss man sich von der klassischen Vorstellung, dass ein Kind immer und rundum am besten bei der Mutter aufgehoben sei, gründlichst verabschieden."

Deshalb hält Meier-Gräwe es für unerlässlich, dass "aufsuchende Hilfen" - also Hausbesuche - in Brennpunkt-Stadtteilen verstärkt werden. Regelbesuche bei Familien mit Neugeborenen, etwa von quartiersbezogenen "Familienhebammen", können helfen, die Gefahr von Kindesvernachlässigung frühzeitig zu erkennen.

Der beste Ort, Eltern unkompliziert und unbürokratisch mit Erziehungs-, Ernährungs-, Gesundheits- und Förderhilfen zusammenzubringen, sei eine Kita im Stadtteil.