Karlsruhe kritisiert Verzögerung und fehlende Einbeziehung der Opposition. Mehr Stimmen für eine Partei können zu weniger Mandaten führen.

Karlsruhe/Hamburg. Mit ungewöhnlich deutlichen Worten hat das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform der Bundesregierung gerügt. Dabei geht es offensichtlich weniger um den Inhalt als den Weg zu einem Kompromiss. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ließ bei einer Verhandlung durchblicken, dass die schwarz-gelbe Koalition bei einer derart gewichtigen Gesetzesänderung die Opposition hätte einbeziehen müssen. "Zum großen Bedauern des Gerichts ist es den Parteien nicht gelungen, innerhalb der drei Jahre einen gemeinsamen Vorschlag für eine Änderung des Bundeswahlgesetzes auf den Weg zu bringen", so Voßkuhle.

Drei Jahre hatte das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag im Jahr 2008 Zeit gegeben, das Wahlrecht zu ändern. Erst fünf Monate nach Ende der Frist und ohne Beteiligung der anderen Bundestagsparteien hat die schwarz-gelbe Koalition das Gesetz im vergangenen Jahr verabschiedet. Anlass war eine verfassungswidrige Passage, die dazu führen kann, dass mehr Stimmen für eine Partei in einem Bundesland zu weniger Mandaten für diese Partei insgesamt führen können (negatives Stimmgewicht).

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Grund dafür sind die Überhangmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Mandate direkt erobert, als ihr nach der Zahl der Zweitstimmen zustehen. Dann wird das Parlament um diese Mandate vergrößert.

In der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht kritisierte die Opposition das neue Wahlrecht, das erstmals bei der Bundestagswahl 2013 gelten soll. Es handele sich um eine "Methode der Mehrheitssicherung um jeden Preis", sagte Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck. SPD und Grüne hatten gegen die Regelung Klage eingereicht, außerdem liegt eine Verfassungsbeschwerde von mehr als 3000 Bürgern vor. Die Überhangmandate "verschaffen der Union einen politischen Standortvorteil, für den andere Parteien 1,6 Millionen Wählerstimmen erringen müssen", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann. Einzelne Wähler bekämen aufgrund der Überhangmandate ein doppeltes Stimmgewicht. Grünen-Vertreter Beck fürchtet eine Parlamentsmehrheit, "die nicht von einer Mehrheit der Wähler getragen wird".

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Der CDU-Abgeordnete Günter Krings verteidigte die Neuregelung. Es sei der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gewesen, den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts zu beseitigen. Das sei mit der Reform umgesetzt worden. "Es ist ein minimalinvasiver Eingriff, der im Wahlrecht eben nur das Notwendige ändert", sagte Krings. Überdies sei die Koalition "nicht Profiteur" der Neuregelung. Sie hätte nach der neuen Regelung bei den vergangenen Wahlen zwei Mandate weniger erhalten, sagte Krings.

Gerichtspräsident Voßkuhle wies auf die knappe Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl hin. Spätester Wahltermin sei der 27. Oktober 2013. "Angesichts des langen Vorlaufs bei der Vorbereitung der Wahl wird also die Zeit zunehmend knapp", sagte Voßkuhle. Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, "rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen". Diese Umstände würden den Senat aber nicht daran hindern, "die angegriffenen Regelungen sorgfältig auf ihre Verfassungsgemäßheit hin zu überprüfen". In Berlin wird mit einer Entscheidung des Gerichts noch vor der Sommerpause gerechnet.

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Nach einem Gutachten des Stuttgarter Mathematik-Professors Christian Hesse genügt das neue Wahlrecht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Das negative Stimmgewicht sei gemindert und hätte nur noch in "seltenen Ausnahmeszenarien, die im politischen Alltag sehr unwahrscheinlich sind", Konsequenzen. Es gebe kein perfektes System, um den Stimmen die Mandate zuzuteilen. Bei einer Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 in Dresden hatte sich herausgestellt, dass die CDU gut 38 000 Stimmen bekam, aber bei 3000 Stimmen mehr insgesamt ein Mandat weniger bekommen hätte. Diesen Widerspruch sollte das neue Gesetz verhindern.