Schwere Krawalle in Ägypten bringen den Arabischen Frühling ins Stocken. Das Übergangskabinett reicht sein Rücktrittsgesuch ein.

Kairo/Istanbul. Ein Fest der Demokratie sollte die erste ägyptische Parlamentswahl ohne den gestürzten Präsidenten Husni Mubarak werden. Doch jetzt sieht es eher nach einer Trauerfeier aus. Eine Woche vor dem geplanten Urnengang fließt wieder Blut auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Am vierten Tag der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in Ägypten ist die Zahl der Toten auf bis zu 33 angestiegen. Allein gestern seien neun Menschen ums Leben gekommen, sagte ein Mitarbeiter eines Leichenschauhauses. Die meisten Todesopfer seien um den Tahrir-Platz zu beklagen gewesen.

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Die Militärs, die von der Revolutionsjugend im Winter noch als Retter gefeiert worden waren, sind zum Feindbild der Protestbewegung geworden. "Das Volk will den Sturz des Feldmarschalls", rufen die Demonstranten. Der Vorsitzende des Militärrats, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, ist für sie der neue Mubarak. Die Übergansregierung von Ministerpräsident Essam Scharaf, gegen die sich die Proteste ebenfalls richten, gab gestern Abend nach und bot ihren Rücktritt an. Ein Militärsprecher sagte, der Rat habe noch keine Entscheidung gefällt. Angeblich wollen die Generäle erst einen neuen Ministerpräsidenten suchen, bevor sie Scharaf und sein Kabinett ziehen lassen.

In Ägypten wird ab Montag in drei Phasen ein neues Parlament gewählt. Damit zieht sich die Wahl bis zum Januar hin. Anschließend soll das Land eine neue Verfassung bekommen.

In den neun Monaten seit dem Sturz Mubaraks steuern die herrschenden Generäle - allesamt von Mubarak ernannt und Stützen des alten Regimes - mit eiserner Hand die Entwicklung, von der sich die Revolutionäre den Übergang zur Demokratie erhofft hatten. Sie haben ihre Stellung gefestigt und sich umfassende Befugnisse gegeben, während das Land immer schlechter regiert wird und die Bürger sich wegen Unruhen und einer stagnierenden Wirtschaft ängstigen. Die Jugend, die den Aufstand im Januar anzettelte, ist an den Rand gedrängt und isoliert. "Wir hätten auf der Straße bleiben sollen. Wir haben den Militärs die Macht auf dem Silbertablett übergeben", sagt der Aktivist Ahmed Imam.

Schon jetzt versuchen die Generäle, die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments zu steuern, die Bildung eines Gremiums zur Ausarbeitung einer Verfassung. Sie verlangen eine politische Rolle für sich als Verfassungs-"Hüter", ein Vetorecht und die Geheimhaltung des Militäretats. Wenn Ende 2012, Anfang 2013 ein neuer Präsident gewählt wird, dürfte der Inhaber des höchsten Staatsamts den Generälen verpflichtet sein: Weil er selbst aus den Reihen des Militärs kommt oder weil sie bis dahin mehr Macht haben als er. "Wenn ich Ägypten am Vorabend der Revolution verlassen hätte und heute zurückkehrte, würde ich nicht merken, dass eine Revolution stattgefunden hat, abgesehen von dem Mangel an Sicherheit und der schlechteren Wirtschaftslage", sagte der Reformpolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei vorige Woche im TV.

Ein krasser Unterschied zur Stimmung in Tunesien, wo der Arabische Frühling im Januar begann. Mit Begeisterung gingen die Bürger im Oktober zur Wahl. Die Islamisten wurden stärkste Kraft, doch selbst über den wachsenden religiösen Einfluss besorgte Liberale betrachteten die Wahl als Sieg für die Demokratie. Das Militär hielt sich im Hintergrund und ließ die zivile Regierung machen.

Die Einzigen in Ägypten, die in diesem Chaos den Militärs die Stirn bieten, sind die Islamisten. Denn die Muslimbrüder und ihre möglichen Koalitionspartner - die radikalen Islamisten der Salafisten-Bewegung und der Gamaat Islamija - haben zwei Ziele vor Augen, die sie mit Entschlossenheit ansteuern: Sie wollen nach der Parlamentswahl die stärkste Fraktion sein, um ihrerseits Einfluss auf die neue Verfassung zu nehmen. Und sie sind es, die verhindern wollen, dass die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung vorab Richtlinien für diese Verfassung festlegt, die ihre Pläne für eine weitere Islamisierung des Staates behindern könnten.

Deshalb und weil der Militärrat immer noch kein Datum für die Präsidentschaftswahl genannt hat, hatten sie ihre Anhänger am vergangenen Freitag auf den Tahrir-Platz gerufen, wo die "Revolution des 25. Januar" begonnen hatte. Die Islamisten erschienen in großer Zahl, und zusammen mit ihnen protestierten Linke und Liberale, denen die von Vize-Regierungschef Ali al-Selmi formulierten Richtlinien für eine Verfassung ebenfalls nicht passen. Fast alle politischen Parteien Ägyptens kritisieren an dem sogenannten Selmi-Communiqué, dass es der Armee weitgehende Autonomie garantiert. Sie soll ihr Budget ohne Rücksicht auf die Regierung bestimmen und verwalten und bis zur Wahl eines Präsidenten eine wichtige Rolle im politischen Prozess spielen dürfen.

Was nicht alle Parteien ablehnen, ist der zweite Teil der Verfassungsrichtlinien, in denen festgelegt werden soll, dass jeder Bürger gleiche Rechte hat - auch Frauen, Christen und Angehörige ethnischer Minderheiten. Zudem sollen die Meinungsfreiheit und andere Bürgerrechte als unveränderbare Grundsätze festgeschrieben werden.

"Dass al-Selmi jetzt diese Debatte ausgelöst hat, die zu Spaltung und Zusammenstößen geführt hat, war ein großer Fehler, er hätte damit warten sollen bis nach der Wahl", kritisiert der ägyptische Politologe Abdel Moneim Said. Anders als viele Ägypter, die jetzt zum ersten Mal wählen gehen wollen, verbindet er keine großen Hoffnungen mit der Wahl. "Wahlen alleine sind noch keine Demokratie", sagt er, "das ägyptische Volk muss die Demokratie vielleicht erst langsam erlernen." In einem Kommentar mit dem Titel "Wir brauchen kein Kalifat" hatte er erklärt, das Beste, was Ägypten erreichen könne, sei ein Staat nach türkischem Modell. Schlimmstenfalls werde es einen Staat nach iranischem Muster erleben.