Nach fast fünfeinhalb Jahren in Gefangenschaft ist der israelische Soldat Gilad Schalit im Austausch für mehr als 1000 Palästinenser freigekommen.

Tel Aviv. Auf diesen Moment hatte eine ganze Nation mehr als fünf Jahre gewartet. Doch kaum jemand so fieberhaft wie Noam Schalit. Der Ingenieur ließ sich beurlauben. Er traf sich mit unzähligen israelischen und internationalen Politikern. Jahrelang lebte der von Natur aus eher schüchterne Mann im Scheinwerferlicht der Medien, verließ schließlich sein Haus und zog in ein Zelt nach Jerusalem vor dem Amtssitz Netanjahus. Und eigentlich wollte er immer eines: seinen Sohn Gilad endlich wieder in die Armee schließen.

Am 25. Juni 2005 waren Hamas-Kämpfer durch einen Tunnel aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen und hatten Schalits Panzer angegriffen. Seine beiden Kameraden waren sofort tot, der damals 19-jährige Soldat wurde von den Angreifern nach Gaza verschleppt. Nach 1941 Tagen in Gefangenschaft steigt Gilad Schalit gestern Mittag um kurz nach eins aus einem Armeehubschrauber. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erwartet ihn. Schalit, der sich erst seit zwei Stunden auf israelischem Staatsgebiet befindet, hat eine Armeeuniform angelegt, begrüßt den Regierungschef und salutiert. Er steht so gerade, wie er das eben schafft. Er bewegt sich so zackig, wie man das nach jahrelanger Gefangenschaft erwarten kann.

Netanjahu umarmt ihn. "Willkommen zurück im Staat Israel", begrüßt der Regierungschef ihn. "Es ist gut, dass du wieder daheim bist." Schalit hält sich aufrecht, er ist sehr dünn. Auf den ersten veröffentlichten Bildern sieht man, wie er sich immer wieder an Geländern festhalten muss. Er sei aber gesund, sein Zustand stabil, heißt es in einer Erklärung der Armee.

Dennoch: Im Hubschrauber, auf dem Weg zur Militärbasis Tel Nof, soll er kurz ohnmächtig geworden sein. In Gegenwart seiner Eltern wird der heute 25-Jährige gründlich untersucht. Noch am Dienstagmorgen waren ein Röntgenapparat und andere medizinische Spezialgeräte auf die Luftwaffenbasis geschafft worden. Ein Fernsehsender berichtete, Schalit habe in der Gefangenschaft keine Sonnenbrille bekommen. Seine Sehfähigkeit könne deshalb abgenommen haben.

Die Live-Berichterstattung der israelischen Fernsehsender versucht sich an einem schwierigen Spagat. Alle wissen, dass die Familie jetzt vor allem Ruhe braucht - doch das öffentliche Interesse ist so groß, dass diesem Wunsch nur schwer nachzukommen ist. Die Privatsender haben ein Abkommen geschlossen, gewisse Grenzen auf der Suche nach der besten Geschichte nicht zu überschreiten. Bei der Ankunft des Soldaten sind nur wenige offizielle Regierungsfotografen zugelassen. Der Chef des staatlichen Pressebüros hat sogar die ausländischen Journalisten gebeten, zumindest in den ersten zehn Tagen nach der Freilassung Zurückhaltung zu üben.

Ausgerechnet die Ägypter aber haben die Zurückhaltung offensichtlich nicht für notwendig gehalten: Die ersten Bilder Schalits stammen von ägyptischen Fernsehkameras. Sie zeigen, wie der Israeli unter anderem vom Chef der Issedine-al-Kassam-Brigaden, Ahmad Dschaabari, über den Grenzübergang Rafah aus Gaza nach Ägypten geleitet wird. Er trägt eine schwarze Baseballmütze. Noch vor der Überführung nach Israel hatte der Sender Nile TV ein Interview mit Schalit aufgezeichnet.

Schalit scheint darin verwirrt, unkonzentriert. Das Sprechen fällt ihm schwer, er gibt auffallend kurze hebräische Antworten, die für die ägyptischen Zuschauer ins Arabische übersetzt werden: "Ich fühle mich nach der ganzen Sache nicht so gut", antwortet Schalit auf die Frage nach seinem Befinden. In der Simultanübersetzung wird daraus allerdings: "Ich fühle mich gut." Er habe "sehr lange keine Menschen gesehen", sagt er. Auf zwischenmenschliche Kontakte freue er sich, und darauf, nicht mehr den ganzen Tag dieselben Dinge zu tun. Am meisten vermisst habe er natürlich seine Familie. Von der geplanten Freilassung habe er in der vergangenen Woche erfahren. "Ich habe es in den vergangenen Monaten gespürt. Ich bin sehr aufgeregt", sagt Schalit in einer seiner längsten Antworten. Die Journalistin führt dieses Gespräch mit einem offensichtlich traumatisierten Menschen, ohne Mitgefühl. Ob er sich nach seiner eigenen Erfahrung nun für die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen einsetzen werde, möchte sie wissen? Schalit fühlt sich bedrängt, sucht nach einem Ausweg: Er werde sich über die Freilassung freuen, wenn die Entlassenen Israel nicht weiter angreifen würden, antwortet er erstaunlich schlagfertig. Er bestätigt auch, von den Bemühungen um seine Freilassung gewusst zu haben: "Ja, wir hatten Fernsehen und Radio." In einer späteren Antwort wird deutlich, dass er tatsächlich recht gut informiert ist: Vor der Revolution seien die ägyptischen Beziehungen zur Hamas nicht so gut gewesen, sagt er.

Die kohärenten Antworten sorgen auf israelischer Seite zwar für eine gewisse Erleichterung, doch über das "ausbeuterische Interview" sei man "schockiert", heißt es später aus der Armee. Genau so etwas habe man Gilad ersparen wollen. Vielleicht war es dann auch kein Zufall, dass sowohl Präsident Schimon Peres als auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gestern dem deutschen Unterhändler Gerhard Conrad (oder Konrad) in Tel Aviv persönlich dankten, über die zuvor so gelobten ägyptischen Vermittlungsversuche aber kaum ein Wort verloren.

Dabei sollen die Ägypter im Endstadium der Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch die Hauptrolle gespielt haben. Abgesehen von dem skandalösen Interview lief gestern Morgen dann auch alles nach Plan: Als die Israelis Schalit in Ägypten identifiziert und medizinisch untersucht hatten, kamen die ersten 27 weiblichen Gefangenen frei. Gegen Mittag hatte die israelische Regierung 477 palästinensische Gefangene aus ihren Gefängnissen entlassen. Regierungssprecher Mark Regev sagte, bei den Entlassenen handele es sich um Menschen, die sich schlimmster Verbrechen schuldig gemacht hätten. Israel habe die Betreuung durch das Internationale Rote Kreuz dennoch immer ermöglicht, die palästinensischen Gefangenen sähen deshalb nicht aus wie Schalit, "der fünf Jahre in einem Erdloch gelebt hat". Weitere 550 Gefangene wird Israel in zwei Monaten freilassen.

Im Westjordanland und im Gazastreifen wurde den Freigekommenen ein triumphaler Empfang bereitet. In Ramallah feierten Zehntausende. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas begrüßte und küsste einige Gefangene und lobte sie als "Freiheitskämpfer". Doch während die Feier im Westjordanland am frühen Mittag schon wieder vorbei war, ging es in Gaza erst richtig los. Die Hamas hatte den gestrigen Dienstag kurzerhand zum Feiertag erklärt, damit jeder an den Jubelfeiern teilnehmen könne. Etwa 200 000 Menschen sollen gekommen sein. Es wurde viel in die Luft geschossen, die diversen militanten Fraktionen rasten jubelnd durch die Straßen und die grünen Flaggen der Islamisten waren überall. Solche Bilder hatten viele Israelis befürchtet: Angehörige von Terroropfern hatten vor dem Obersten Gerichtshof gegen den Austausch geklagt. Am Montagabend hatten die Richter grünes Licht gegeben. Es handele sich um eine politische Angelegenheit, die außerhalb der Kompetenz der Gerichte liege, begründeten sie ihre Entscheidung.

Und so kehrte Gilad Schalit noch gestern am späten Nachmittag zusammen mit seiner Familie nach Mizpe Hila zurück. Der kleine Heimatort der Familie im Norden des Landes ist schon zuvor abgeriegelt worden. Nur die Bewohner und Journalisten dürfen das Dorf betreten. Die Bewohner haben Dutzende Flaschen Champagner vorbereitet, die Straßen mit Blumen bestreut und Willkommensschilder gemalt. Schalit wird vom Hubschrauberlandeplatz durch ein Spalier singender und tanzender Menschen bis zum Haus seiner Eltern gefahren. Die meisten Menschen tragen Hemden mit dem Aufdruck: "Wie gut es ist, Dich wieder zu Hause zu haben". Dieser Titel eines in Israel bekannten Liedes war auch das Motto der Freilassung.

Im Radio erzählt Schalits Großvater Zvi, sein Enkel habe beim ersten Wiedersehen mit der Familie sehr leise gesprochen und gesagt, er sei müde und wolle schlafen. "Sie klingen auch recht erschöpft", entgegnet die Moderatorin. "Ja", seufzt der 85-Jährige. "Wir gehen jetzt auch zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder richtig schlafen."