Die Opferzahl nach dem Erdbeben steigt jedoch weiter. Radioaktive Lebensmittel entdeckt

Ishinomaki. Jin Abe und seine Großmutter waren gerade in der Küche, als am 11. März um 14.46 Uhr in Japan die Erde bebte und ihr Haus über ihren Köpfen zusammenbrach. Verschüttet lagen sie zwischen zertrümmerten Möbeln und Geröll, als der Tsunami kurz danach Ishinomaki überrollte - die Stadt, in der sie lebten. Bei niedrigen Temperaturen um die fünf Grad warteten beide auf Hilfe. Die 80-jährige Sumi Abe eingeklemmt, bewegungsunfähig. Ihr 16-jähriger Enkelsohn Jin ganz nah bei ihr. Und der Kühlschrank. Das war ihre Rettung.

Sumi Abe und Jin Abe haben die größte Katastrophe in der japanischen Nachkriegsgeschichte überlebt und wurden gestern nach neun Tagen lebend geborgen. Die Bilder der Rettung sind ein Hoffnungsschimmer für das erschütterte Land, in dem die Opfer- und Vermisstenzahlen jeden Tag weiter steigen. Und fast ein Wunder für die Helfer, die kaum noch mit Überlebenden gerechnet haben. Ein Moment des Glücks in einer großen Tragödie.

Vor allem Joghurt hätten er und seine Großmutter gegessen, erzählt Jin Abe später seinem behandelnden Arzt im Krankenhaus. Und noch ein paar andere Dinge, die sie im Kühlschrank gefunden hatten. Der Junge ist in keiner guten Verfassung. Sein Körper war am Ende auf nur 28 Grad heruntergekühlt und stark geschwächt. In seinem linken Knöchel, sagt Jin Abe, habe er kein Gefühl mehr. Die ganzen neun Tage hat es gedauert, bis zumindest er sich aus den Trümmern befreien konnte. Vorsichtig war er auf das Dach seines Hauses geklettert, hatte um Hilfe gerufen und gewinkt, als ein Hubschrauber über ihm flog. Der Teenager lotste die Rettungskräfte zu seiner Großmutter. Beide wurden sofort mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen.

Ishinomaki liegt in der nordjapanischen Präfektur Miyagi - sie ist eine der am schwersten vom Erdbeben betroffenen Provinzen. Hier gibt es bislang auch die meisten Todesopfer. Jin Abe weiß bis heute nicht, wie es seiner Mutter geht und wo sie sich aufhält. In den ersten Tagen nach der Katastrophe hat er noch mit ihr über das Handy telefoniert, dann brach jedoch der Kontakt ab. Der 80-jährigen Sumi Abe soll es nach Angaben der Ärzte etwas besser gehen. Auch sie ist geschwächt, aber ansprechbar.

Das war die gute Nachricht, die die japanische Polizei gestern zu vermelden hatte. Die schlechte ist die gestiegene Zahl der Toten und Vermissten. Mindestens 8133 Menschen seien bei dem Erdbeben der Stärke 9 und dem nachfolgenden Tsunami gestorben. 12 272 gelten offiziell als vermisst. Der Polizeichef in der Präfektur Miyagi vermutet, dass allein dort 15 000 Menschen ums Leben gekommen sind. Direkt betroffen sind mindestens zwölf der 47 Präfekturen in Japan, wie die Zeitung "Asahi Shimbun" berichtete. Zu den am schwersten betroffenen Orten gehört Minamisanriku, wo nach dem Tsunami von 9500 Bewohnern jedes Lebenszeichen fehlt.

Eine Viertelmillion Menschen haben weiter keinen Strom, eine Million kein Trinkwasser. Und dann ist da die ständig lauernde Gefahr von Nachbeben, herunterfallenden Trümmern und radioaktiver Strahlung aus dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima. Wie das Gesundheitsministerium in Tokio gestern mitteilte, reiche die Strahlung vermutlich deutlich weiter als bislang angenommen und habe auch Agrarprodukte verseucht. Der Sprecher des Ministeriums sagte, Messungen bei Raps hätten "bedeutende Dosen an Strahlung" ergeben. Die Proben stammten aus Regionen, die bislang mit erhöhter Radioaktivität nicht in Zusammenhang gebracht worden seien. Zuvor war eine erhöhte Strahlenbelastung in Milch von 37 Bauernhöfen und im Spinat aus der Umgebung des Atomkomplexes festgestellt worden, die nach Behördenangaben aber nicht gesundheitsschädlich sei. Auch Radioaktivität im Trinkwasser von Tokio und mehreren Regionen des Landes sei im Normbereich gewesen.

Hunderttausende Erdbebenopfer verharren seit dem Unglück weiter in Notunterkünften. Viele Alte sind darunter, sie sind erschöpft und frieren. Zwar ist es tagsüber wieder etwas wärmer - aber mehr als zehn Grad werden es nicht. Nachts bewegen sich die Temperaturen in der Nähe des Gefrierpunktes. Es mangelt an Heizöl, Benzin und an wärmenden Öfen. Die Menschen wärmen sich mit Decken, manche Familien haben die Nacht zusammengedrängt in ihrem Auto verbracht. Michio Kobayashi, Arzt im Krankenhaus von Ishinomaki, sagte dem staatlichen Sender NHK, die Menschen litten nun an den indirekten Auswirkungen des Bebens. Nachdem in den ersten Tagen hauptsächlich Verletzte behandelt worden seien, steige nun die Zahl von Patienten mit Lungenentzündungen, Unterkühlung oder Infektionskrankheiten. "Uns fehlt es an allem", sagte er. "Wir brauchen dringend medizinische Versorgungsgüter, Essen und vor allem Heizmaterial."

Ganz langsam rollt die Hilfe jedoch in den Unglücksgebieten an: Erste Hilfsgüter treffen ein, und die Reparaturarbeiten unter anderem an den Gas- und Wasserleitungen sind im Gange. Die ersten Aufräumarbeiten sind ebenfalls angelaufen. Nach offiziellen Angaben sind rund 120 000 Kräfte von Feuerwehr, Polizei und Streitkräften im Einsatz, um den Überlebenden zu helfen und die Toten zu bergen.