Der türkische Politologe Hüseyin Bagci über die Annäherung seines Landes an Europa. Die Qualität der türkischen Demokratie soll wachsen.

Hamburg. Er ist einer der brillantesten Intellektuellen der Türkei und dort zudem ein bekannter Fernsehkommentator; türkische und internationale Spitzenpolitiker tauschen sich häufig mit ihm aus. Gestern Abend hielt der Politologe Hüseyin Bagci, Professor in Ankara und derzeit Gastprofessor in Berlin, vor der Katholischen Akademie einen Vortrag zum Thema "Wohin geht die Türkei?". Doch vorher besuchte er, begleitet von der Bürgerschaftsabgeordneten Bettina Machaczek, Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forums in der CDU, das Abendblatt.

Der Ausgang des Referendums in der Türkei erfülle ihn mit Stolz, räumt der lebhafte und eloquente Wissenschaftler ein. "Denn das bedeutet eine höhere Qualität der türkischen Demokratie: offener, liberaler, allerdings mit religiösem Beigeschmack versehen." Symbolisch habe die türkische Gesellschaft nun mit dem Staatsstreich des Militärs vom 12. September 1980 abgeschlossen. "Die Militärs werden nicht mehr in der Türkei intervenieren können. Auch weil die Türkei mit der EU um eine Mitgliedschaft verhandelt, ist ihre Demokratie stark - denn die EU wirkt wie eine Kontrollinstanz. Wir haben eine Türkei, die sich europäischem Demokratieverständnis annähert."

Er erwarte keine türkische Vollmitgliedschaft bis 2023, sagt Bagci; sein Land sei derzeit auch noch gar nicht beitrittsreif. "Aber die Türkei sollte sich nicht von Europa fortbewegen, sie sollte nicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Und die richtige Seite der Geschichte bedeutet: noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, noch mehr Rechte für die Bürger. Bislang war die Verfassung der Türkei die Verfassung des starken Staates".

Nun hat aber doch gerade das Militär bisher den laizistischen Staat Kemal Atatürks vor dem Islamismus geschützt ... "Es verhält sich andersherum", argumentiert Bagci, der sich als "Pragmatiker, Freidenker, Weltbürger und nicht praktizierenden Muslim" einordnet. "Nur weil die Türkei damals keine Demokratie war, hatte das Militär diese Möglichkeiten. Jetzt aber nicht mehr. Wir haben eine neue Generation, wir haben neue demokratische Strukturen in der Gesellschaft. Die Republik sollte nicht vom Militär geschützt werden - sondern von ihren Bürgern. Ab jetzt treten wir in eine andere Phase unserer Geschichte ein. Das demokratische Bewusstsein der Türken hat sich in den vergangenen 50 Jahren sehr stark entwickelt, und ich erwarte keinen Rückzug aus dieser Entwicklung mehr."

Bagci weist auf einen geradezu paradoxen Vorgang hin. Noch 1990 habe der Islamist Recep Tayyip Erdogan die Demokratie nur als Instrument zur Machtergreifung betrachtet. Jetzt aber versichert er als Regierungschef, dass das demokratische System unbedingt geschützt werden müsse. "Es ist die Wandlung zum Verteidiger der Demokratie. Es ist eine Konsequenz der jüngeren Geschichte - damals sah Erdogan einfach keine Alternative."

Der Politologe weist auf eine bemerkenswerte Verlagerung in der türkischen Gesellschaft hin. Die anatolischen Bauern hätten viel stärker für die Verfassungsreform gestimmt als die Intellektuellen in der Westtürkei. Vor allem die einfachen Menschen sähen nun große Chancen im System Demokratie - und darin liege eine Vorbildfunktion für die islamische Welt. "Der saudische Botschafter in den USA von 2005-2006, Prinz Feisal al-Turki, hat mir einmal gesagt: 'Es bedeutet nicht viel, Reformer zu sein, wenn Sie nicht das Volk haben, um diese Reformen auch mitzutragen.'"

Und die Türkei sei enorm reformwillig. Ihre bewegte Geschichte habe bewirkt, dass die Türken, anders als andere Völker ihrer Region, bei Veränderungen nicht zum Radikalismus neigten. "Wir sind ja kein homogenes, sondern ein heterogenes Volk", sagt Bagci. "Allein Anatolien hat im Laufe seiner Geschichte 17 verschiedene Zivilisationen erlebt." Das mache gelassen. Man denke an den US-Pastor, der einen Koran verbrennen wollte: "In Pakistan demonstrieren sie aufgebracht; die Türken aber sagen nur: 'Was für ein Idiot' und damit hat es sich."

Und was sagt ein türkischer Intellektueller zum Reizthema Thilo Sarrazin? "Philosophisch betrachtet spinnt er", sagt Hüseyin Bagci. "Politisch gesehen hat er in gewissen Punkten recht. Dass junge Leute, die hier geboren sind, kein Deutsch sprechen - das geht gar nicht." Und das sagt er in seinem ausgezeichneten Deutsch.