In Berlin treffen sich Männer einer viel beschworenen “Parallelgesellschaft“. Das auch sie zwangsverheiratet wurden, denkt kaum jemand.

Adem war der Erste, der das Wagnis einging. Jetzt sitzt er mit gut 20 Männern im Kreis. Er hält ein Gläschen mit Çay in der Hand und sagt: "Es ging um meine Ehre. Meine Frau hatte sie mit Füßen getreten."

Die anderen Männer um ihn herum nicken. Sie wissen, was er meint. Einer sagt: "Frauen sind die Ehre eines Mannes. Sie haben alles in der Hand - sie können diese Ehre mehren oder sie zerstören." Der Tee im elektrischen Samowar in der Ecke brodelt. Durch die große Fensterfront entschwindet das letzte Tageslicht. Hier in einem Dienstzimmer des "Psychosozialen Dienst Neukölln" haben sich Männer einer viel beschworenen "Parallelgesellschaft" versammelt. Männer, über die pauschale Bilder kursieren: Das der türkischen Paschas, die ihre Frauen daheim schlagen und ihre Ehre bis aufs Blut verteidigen, den Gebetskranz immer bei der Hand. Von Patriarchen, die ihre archaischen Sitten und Gebräuche mit nach Deutschland genommen haben.

"Zerrbilder", sagt Kazim Erdogan, der die Gruppe leitet. "Türkische Männer können genau wie Frauen zu Opfern einer patriarchalen Gesellschaft werden. Nur sprechen sie nicht darüber. Schwäche zuzugeben ist für sie ein Gesichtsverlust." Zudem: Hilfsangebote für türkischstämmige Männer gibt es kaum. Die Selbsthilfegruppe des Psychologen Erdogan ist alles andere als gewöhnlich. Jeden Montagabend sprechen hier die Männer über das, was sie belastet: die Bürde, als Mann immer stark sein zu müsse n, Entscheidungsträger und Sittenwächter zu sein. Die Realität sieht oft anders aus.

Adem, Türke und alleinerziehender Vater, wischt zu Hause das Klo aus

Adem* ist alleinerziehender Vater. Daheim schrubbt er den Badezimmerboden und wischt das Klo aus, schneidet Gemüse und kocht die Suppe fürs Mittagessen mit seinen Kindern, dem 18-jährigen Halit und der sieben Jahre alten Bilal. Was bei der Familienidylle bei Adem daheim fehlt, ist die älteste Tochter - entführt, sagt er, von der Mutter in die Türkei. Eine Geschichte, die man so sonst nur umgekehrt hört. Das Kind vom Vater entführt.

"Früher waren wir glücklich", sagt Adem und es klingt, als habe er immer noch nicht realisiert, was eigentlich passiert ist. Früher, da hielt er sich an die ungeschriebenen Gesetze seiner Ehe mit der Cousine. Sie kümmerte sich um den Haushalt und die drei Kinder, er verdiente als Maschinenführer Geld für die Familie - rund 1700 Euro mussten für alle reichen, inklusive Onkel und Cousins in der Türkei, denen er jeden Monat bis zu 400 Euro schickte. Hohe Ausgaben für den Familienvater, die seinen Dispokredit wachsen ließen - genau wie seine Probleme.

Bis Adem Wut über die Bequemlichkeit der Großfamilie überkam. Er stellte die Zahlungen ein. Für seine Frau hatte die Ehe damit ihre Grundlage verloren. Sie trennte sich von ihm und ließ ihn allein mit den drei Kindern zurück. Erst am Telefon und viele Hundert Kilometer entfernt in der Türkei traute sie sich zu sagen, was sie von ihm dachte: Dass er ihren Respekt verloren habe, dass er ein Versager sei, der nicht einmal genug Geld verdienen könne.

Eines Tages war auch die älteste Tochter verschwunden. "Ich wollte sie von der Schule holen, doch sie war nicht mehr da." Eine Entführung durch die Mutter in die Türkei - der vorläufige Höhepunkt eines Ehedramas. Doch Adems Frau ging noch weiter. Sie verletzte ihn dort, wo es ihn am meisten schmerzte: bei seiner Ehre als Mann. Um auch das Sorgerecht für die beiden anderen Kinder zu erhalten, schrieb sie dem Jugendamt einen Brief, in dem stand, er habe die gemeinsame Tochter geschlagen und missbraucht. Adem fühlte sich machtlos. Warum sollte ihm jetzt noch jemand Glauben schenken? Er glaubte nun, von niemandem mehr unterstützt zu werden.

Seine Gefühle zu beschreiben, fällt Adem schwer, er sagt: "Wenn Kazim Erdogan nicht gewesen wäre - vielleicht hätte ich sie umgebracht." Der Psychologe kannte die Fälle, in denen es tatsächlich zu einem Ehrenmord gekommen war. Er wusste, wie schnell die Lage eskalieren konnte, wenn verletzter Stolz und verletzte Ehre im Spiel waren. Er erklärte Adem, dass er seine Ehre auch durch das deutsche Rechtssystem wiederherstellen kann. Als Adem seiner Frau vor Gericht wiederbegegnete, verschränkte er seine Arme hinter dem Rücken. Den Streit um das Sorgerecht vor Gericht hat er gewonnen.

Ismets Ehe war ein Missverständnis, ein Versehen. Man könnte es auch anders nennen: eine Zwangsheirat.

Ismets Vater suchte reiche Mädchen aus, plötzlich sollte er eine heiraten

"Es begann ganz harmlos zwischen uns", erzählt er. "Ich half nach der Schule in dem Café meines Vaters aus." Oft kamen Mädchen zu Besuch, die er von der Schule kannte. Dass er plötzlich eine dieser Besucherinnen heiraten sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Die junge Frau bemühte sich eifrig um Ismet. Ihm war das lästig, aber er nahm den Gast nicht weiter ernst. Bis der Vater seinen Sohn beiseitenahm. "Mein Vater befahl mir, das Mädchen zu heiraten, weil ich sonst seine Ehre verletzten würde." Ismet war verwirrt - wegen eines so harmlosen Flirts spürte er keinerlei Verpflichtung. Doch der Vater drohte ihm, ihn von zu Hause rauszuwerfen, sollte er sich nicht fügen. Da bekam Ismet Angst. Sich gegen seinen Vater aufzulehnen wagte er nicht, er war schließlich auf ihn angewiesen. Der 17-Jährige stimmte also der Verlobung zu, eingeschüchtert und verletzt.

Ismet verstand die Welt nicht mehr, als der Vater kurze Zeit später die Hochzeit plötzlich wieder absagte. Ihn überkam Wut auf seinen Vater, der ihm sein Leben scheinbar willkürlich diktieren wollte. Er war überzeugt: Wenn er seine Verlobte nun einfach so verließ, würde er ihre Ehre tatsächlich beschmutzen. Das wollte er ihr nicht antun. Er war nun selbst gefangen in seiner Vorstellung von Ehre und Moral.

Der Vater warf seinen Sohn aus der Wohnung. Ismet musste nun Geld verdienen, um eine Familie zu ernähren. Den Plan, Abitur zu machen, gab er auf, stattdessen begann er in einer Fabrik zu arbeiten. Er fühlte sich alleingelassen. "Meine Frau war mir da in der Zeit vor der Hochzeit wie eine Freundin."

In der Hochzeitsnacht jedoch musste Ismet die Freundin zur Gattin machen. "Ich fühlte mich nicht hingezogen zu ihr. Aber ich habe mir gesagt: Stell dich nicht so an, sei ein Mann und mach es einfach. Das war ein grauenhaftes Gefühl." Seitdem sind 20 Jahre vergangen. Zwei Jahrzehnte, um die sich Ismet heute betrogen fühlt. Erst spät hat er verstanden, warum der Vater so sehr auf die Hochzeit bestand. "Vor unserer Verlobung dachte er, die Familie meiner Frau sei wohlhabend. Doch dann fand er heraus, dass die Eltern meiner Frau gar kein Geld hatten. Mein Vater fühlte sich getäuscht." Ismet aber fühlte sich wie ein Tier, verschachert für ein bisschen Geld.

Ahmet kann dieses Bild nicht vergessen, wie seine Frau ihm die Scheine hinlegte, widerwillig. Ein Taschengeld, damit er sich Fahrkarten für die U-Bahn oder einen Tee kaufen konnte. In der Art, wie sie ihn damals ansah, spürte er ihre Verachtung: Ein Mann, der nicht in der Lage war, Geld nach Hause zu bringen, der war in ihren Augen ein Versager. Doch Ahmet war damals gerade erst ein paar Wochen in Berlin, ein Quereinsteiger in die deutsche Gesellschaft, ein Import aus der Türkei. Seine deutsch-türkische Frau hatte ihn nach der Hochzeit zu sich geholt. In der ostanatolischen Heimat war Ahmet als einziger Sohn der Hoffnungsträger der Familie. Durch die Hochzeit mit einer entfernten Verwandten in Deutschland sollte er es zu etwas bringen. In Deutschland jedoch fühlte sich der "Importbräutigam" hilflos. Was die Menschen sprachen, verstand er nicht. Seine Zeugnisse aus der Türkei waren plötzlich nichts mehr wert.

Ahmet glaubte, ein Mann hat besondere Rechte, doch hier war er ein Niemand

Schon als Kind hatte Ahmet gelernt, dass ein Mann besondere Rechte und besondere Pflichten hat. Doch in Deutschland, da fühlte er sich wie ein Niemand. Er, der in der Türkei als Anwaltsgehilfe sein Geld vom Schreibtisch aus verdient hatte, ließ allen Stolz fallen und begann, auf einer Baustelle zu arbeiten. Jeden Morgen quälte sich Ahmet in eine Arbeit, von der er wusste, dass sie ihm nicht die Anerkennung einbringen würde, die er sich wünschte. Über seine Sorgen konnte er mit niemandem reden. Vor allem nicht mit seiner Ehefrau, die sich zurückzog, weil Ahmet ihr zu unmännlich geworden war. Die Probleme junger Frauen, die per Heiratsmigration nach Deutschland kommen, sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Schwierigkeiten der Männer jedoch, die als "Importbräutigame" kommen, werden kaum erwähnt. Dabei fällt es diesen Männern in gewisser Hinsicht sogar schwerer als Frauen, sich in dem fremden Land zurechtzufinden. Sie sollen sich als Familienoberhaupt beweisen und kämpfen zugleich mit Sprachproblemen und Orientierungslosigkeit. "Das kann in Autoaggression enden oder sich in Gewalt gegenüber der Frau äußern", sagt Erdogan. Ahmet kam immer wieder zu ihm. Der Psychologe erklärte ihm in vielen Einzelsitzungen, dass Männlichkeit nichts mit Geld und Macht zu tun haben muss. Dass es sich lohnt, sich gegen überkommene Traditionen aufzulehnen. Inzwischen kommt Ahmet im Anzug in die Gruppensitzungen, für den 40-Jährigen sind sie etwas Besonderes. Immerhin hat ihm der Psychologe seine Ehre wiedergegeben, als Ahmet sich am Ende fühlte.

Der Psychologe Kazim Erdogan ist Männern wie Ahmet, Ismet und Adem ein Lebensberater. Der Gesprächsbedarf ist groß. Manche Gruppenteilnehmer klopfen schon um 16 Uhr an Erdogans Tür, dabei beginnt die Runde erst zwei Stunden später. Inzwischen kommen 45 Männer - mal erscheinen neue Gäste, mal verabschieden sich die Männer nach Wochen oder Monaten. Aber alle tragen die Botschaften weiter, die sie in Erdogans Dienstzimmer gelernt haben.

* Die Namen der Männer Adem, Ismet und Ahmet sind geändert.