Leichenschändungen und andere Skandale sind für Experten Symptome für die totale Erschöpfung der unteren militärischen Führungsebene der USA.

Hamburg. Die 82. Luftlandedivision der USA trägt den Beinamen "Amerikas Ehrengarde". Doch diese größte Luftlandeeinheit der Welt, die seit der Gründung 1917 an allen Kriegen der USA teilgenommen hat, macht Amerika derzeit Schande. Fotos, auf denen Soldaten der 4. Brigade mit Leichenteilen afghanischer Selbstmordattentäter posieren, haben im Pentagon Angst vor Racheakten der Taliban ausgelöst.

Vor allem aber untersuchen Militäranalysten nun unter Hochdruck die Ursachen derartiger Entgleisungen in den Streitkräften. Im Januar hatte ein Video vier US-Soldaten beim Urinieren auf Leichen von Taliban-Kämpfern gezeigt. Im Februar verbrannten US-Soldaten fahrlässig Koran-Exemplare; bei gewaltsamen Protesten dagegen kamen mehr als 30 Menschen um.

Und im März hatte der US-Feldwebel Robert Bales plötzlich mitten in der Nacht seinen Stützpunkt verlassen, war in das benachbarte Dorf Najib Yan gelaufen, hatte 17 Zivilisten erschossen und fünf weitere verletzt.

Verteidigungsminister Leon Panetta beeilte sich zu erklären, dass die Fotos mit Soldaten und Leichenteilen "in keiner Weise die Werte oder den Professionalismus der breiten Mehrheit der US-Truppen widerspiegeln, die heute in Afghanistan dienen".

Statistisch gesehen stimmt das: Mehr als eine Million amerikanische Soldaten haben seit dem 11. September 2001 am Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan und anderswo teilgenommen; die Zahl der Soldaten, die Skandale verursachten oder zu Mördern an Zivilisten wurden, ist vergleichsweise sehr gering.

Dennoch häufen sich derartige Vorfälle in beunruhigender Weise. Im Fall der 82. Luftlandedivision war ein spezielles "Combat Team" der 4. Brigade im Februar 2010 zu einer Polizeistation in der afghanischen Provinz Zabol gerufen worden. Sie sollten per Iris-Scan und Fingerabdrücken die Überreste von Taliban-Selbstmordattentätern identifizieren. Das taten sie auch, doch dann rasteten sie aus, posierten grinsend mit abgesprengten Armen und Beinen. Ein paar Monate später wiederholte sich der Vorgang an einem anderen Ort.

Der Verteidigungsexperte Andrew Exum, der an der Columbia-Universität lehrt, sagte gegenüber der "New York Times", einige dieser Vorfälle seien ein Symptom "für den Zusammenbruch der Führungsfähigkeit" auf der Ebene kleinerer Einheiten. Exum, der selber Eliteeinheiten in Afghanistan und im Irak geführt hat, fragt: "Wo war der Feldwebeldienstgrad, der gesagt hat: ,Stopp, Jungs. So etwas tun wir nicht. Wir schänden doch keine Toten'?"

Auch andere Analysten sind der Ansicht, dass die totale Erschöpfung der Unteroffiziersdienstgrade eine Ursache für die Häufung der Skandale ist. Während die jungen Soldaten rascher ausgetauscht würden, blieben die unverzichtbaren Feldwebel - Rückgrat jeder Armee - meist länger im Einsatz, bildeten aus und führten die Truppen im Gefecht. Tag für Tag, Monat für Monat.

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Skandal-Fotos: US-Soldaten posierten mit Körperteilen

Irgendwann können manche einfach nicht mehr und drehen durch. Der des Mordes angeklagte Feldwebel Bales war gegen seinen erklärten Willen zum vierten Mal hintereinander in den Kampfeinsatz geschickt worden - obwohl er bei früheren Einsätzen schwere Verletzungen am Kopf erlitten und einen Teil eines Fußes verloren hatte. Die Frau von Bales und seine Freunde können sich nicht erklären, wie dieser Mann mitten in der Nacht zum Massenmörder werden konnte.

Eine weitere Erklärung könnte das "Herr der Fliegen"-Syndrom sein. Der gleichnamige Roman des Literaturnobelpreisträgers William Golding beschreibt, wie kultivierte britische Schuljungen, auf einer einsamen Insel von der Zivilisation abgetrennt, in Mord und Grausamkeit abgleiten. Die Bezeichnung "Herr der Fliegen" steht für den teuflischen Dämon Beelzebub.

Ein ähnlicher Zusammenbruch zivilisatorischer Regeln vollziehe sich, wenn Soldaten lange Zeit auf abgelegenen Außenposten leben müssten. Die moderne Anti-Terror-Strategie erfordert kleine Einheiten, die in oft erbärmlich primitiven Basen in zerklüftetem Terrain gegen erbarmungslose Gegner kämpfen müssten, unter schwierigen logistischen Umständen. Die ständige Todesgefahr führt zwar oft zu einer eisernen Verschworenheit der Soldaten, bedeutet aber für die Führungsfähigkeit der auf sich gestellten Vorgesetzten eine erhebliche Herausforderung.

Zum Ventil wird dann oft Galgenhumor - auch angesichts von Leichen; und das Posieren mit Leichenteilen des Gegners kann ein Selbstschutz-Mechanismus sein - Symbol dafür, dass dieser Feind keine Bedrohung mehr darstellt. Nach Ansicht von Experten untergraben diese Skandale jedoch massiv die Fähigkeit der US-Streitkräfte, ihren Auftrag in Afghanistan trotz einer immer feindseliger reagierenden Bevölkerung noch zu erfüllen.