Der Geist der Revolution hat sich in Kairo verflüchtigt. Nach der Präsidentenwahl drohen neue Proteste und Gewalt. Besorgnis verbreitet sich.

Kairo. Wenn die Ägypter heute einen Nachfolger für Präsident Husni Mubarak wählen, stellen sie die Weichen für eine neue Republik. Die meisten Wähler sehen nur diese Alternative: eine Light-Version von Ex-Präsident Mubarak oder einen engstirnigen Islamisten, der Christen und Liberale als Bürger zweiter Klasse behandelt. Das sind keine guten Aussichten für eine friedliche, demokratische Zukunft. Schon der Wahlkampf war schmutzig. Die Spitzenkandidaten aus dem liberalen Lager warfen den Islamisten vor, sie wollten das Land zu einer Art Taliban-Diktatur machen. Die Islamisten behaupteten, ihre säkularen Gegner seien allesamt "Überreste des alten Regimes".

Der einende "Geist der Revolution", der bei der Parlamentswahl noch spürbar war, hat sich verflüchtigt.Zwar ist ganz Ägypten vom Wahlfieber erfasst. Doch es schwingen große Ängste mit. Denn die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Kompromissfähigkeit keine Stärke ägyptischer Politiker ist. Schon jetzt haben einige von ihnen angedeutet, dass sie ein Wahlergebnis, das nicht nach ihrem Geschmack ist, für unrechtmäßig erklären wollen. Neue Proteste und Gewalt wären die Folge.

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Außerdem ist bis jetzt nicht klar, welche Machtbefugnisse der neue Staatschef haben will. Die Generäle, die nach dem Abgang von Präsident Mubarak im Februar 2011 die Macht übernommen hatten, wollen ihre Privilegien nicht aufgeben. Und welche Rechte die neue Verfassung dem Präsidenten geben wird, ist auch noch völlig offen.

Dass einer der Kandidaten im ersten Wahlgang am Mittwoch und Donnerstag mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, gilt als unwahrscheinlich. Deshalb geht es jetzt erst einmal darum, wer sich für die Stichwahl am 16. und17. Juni qualifiziert. Insgesamt stehen 13 Namen auf dem Stimmzettel, wobei ein Kandidat inzwischen inoffiziell seinen Rückzug aus dem Rennen erklärte.

Fünf Kandidaten haben nach den Umfragen eine Chance, das Finale zu erreichen: Ahmed Schafik, der letzte Regierungschef von Mubarak, der liberale Karrierediplomat Amre Mussa, der zuletzt Generalsekretär der Arabischen Liga war, Abdel Moneim Abul Futuh, der sich als gemäßigter Islamist verkauft, Mohammed Mursi, der offizielle Kandidat der Muslimbrüder, und der Aktivist Hamdien Sabbahi, der von Altlinken und der Jugend favorisiert wird.

Die Elite des Landes, die im vergangenen Jahr noch laut gejubelt hatte, als das Militär Mubarak zum Rücktritt drängte, ist inzwischen tief frustriert. Vor allem Akademiker und Geschäftsleute fragen sich, ob Demokratie nach dem Prinzip "one man - one vote" wirklich der richtige Weg für einen Staat ist, in dem ein Viertel der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann.

"Es ist wirklich ironisch, dass die Revolution, die als Freiheitsbewegung der jungen, dynamischen ägyptischen Jugend begonnen hatte, uns jetzt im Eiltempo von einer Diktatur in die nächste führt. Diesmal wird es eineDiktatur der heiligen Männer sein. Ehrlich, mit großem Bedauern gestehe ich, dass ich mich langsam frage, ob das alte Regime wirklich so schlecht war. Gott schütze dieses gesegnete Land vor den Ahnungslosen und Raffgierigen", erklärt ein Kairoer Jungunternehmer, der vor einem Jahr noch voller Optimismus und Plänen gewesen war. "Lieber Amre Mussa, bitte rette uns vor den Heuchlern!", fleht eine ägyptische Englischlehrerin, die in Saudi-Arabien lebt.

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Radwa Fausi, 27, will ihre Stimme Hamdien Sabbahi geben, "weil er Distanz zu den Muslimbrüdern wahrt und für soziale Gerechtigkeit ist". Doch wie viele Unterstützer des "einzigen Revolutionärs" unter den Kandidaten, so hat auch die junge Frau, die in einemKairoer Callcenter arbeitet, Angst, dass ihre Stimme "verloren geht", weilSabbahi in Umfragen meist auf dem vierten oder fünften Platz liegt.

Westliche Regierungen und in Kairo ansässige ausländische Firmenvertreter hatten nach der Parlamentswahl im Frühjahr erklärt, sie stünden auch jetzt noch, da mehr als 70 ProzentIslamisten im Parlament sitzen, an der Seite Ägyptens.

Doch da ist viel Heuchelei mit im Spiel. In Wirklichkeit beobachten sie die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes mit großer Sorge. Ein Wahlsieg des Islamisten Abul Futuh, der von den radikalislamischenSalafisten unterstützt wird, würde Reiseveranstalter und Investoren wahrscheinlich zusätzlich verschrecken.

Auch eine aktuelle Umfrage desUS-Meinungsforschungsinstituts Pew brachte ein für westliche Demokratie-Förderer alarmierendes Ergebnis. Auf die Frage, welches Land Vorbild für die Rolle der Religion in Politik und Regierung sein soll - die Türkei oder Saudi-Arabien -, entschieden sich 61 Prozent der Befragten für das saudische Modell. Lediglich 17 Prozent der Ägypter sehen die derzeit von Islamisten regierte,aber vom System her säkulare Türkei als Vorbild.

Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Ägypter hat für einen Islamisten gestimmt. Das unabhängige ägyptische Nachrichtenportal "Al-Youm 7" meldete unter Berufung auf die Botschaft in Berlin, von den 1615 gültigen Stimmen seien 647 auf den unabhängigen Islamisten Abdel Moneim Abul Futuh entfallen. Weitere 199 Ägypter hätten ihre Stimme dem Kandidaten der Muslimbrüder gegeben.