Die Bundesregierung soll nach Meinung vieler Deutscher den EM-Spielen in der Ukraine fernbleiben. Kiew droht Deutschland mit Konsequenzen.

Hamburg/Passau/Berlin/Kiew. Der Streit um die inhaftierte ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko und einen möglichen EM-Boykott wird zur zunehmend zur Belastungsprobe für die Beziehungen zwischen Berlin und Kiew. Der Vize-Präsident der Partei von Präsident Viktor Janukowitsch, Leonid Koschara, warnte Deutschland vor wirtschaftlichen Konsequenzen, wie "Spiegel Online“ am Freitag berichtete. Sollten Vereinbarungen wie das derzeit auf Eis liegende EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine am Fall Timoschenko scheitern, würden auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern in Mitleidenschaft gezogen. "Ohne Abkommen wird der deutsche Zugang zum ukrainischen Markt begrenzt sein“, sagte Koschara weiter. Die deutschen Hersteller würden verlieren.

Roth ruft Politiker zum EM-Boykott auf

Unterdessan fordert auch die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth einen politischen Boykott der Fußball-Europameisterschaftsspiele in der Ukraine. Westliche Politiker sollten sich nicht für eine Kulisse missbrauchen lassen, die am Ende nur Präsident Janukowitsch und seinem "diktatorischen Regime“ helfe, sagte Roth der "Passauer Neuen Presse“ (Freitag). Zudem sollten die deutschen Fußballer und Trainer als Botschafter der Demokratie auftreten und sich ruhig auch zur Menschenrechtslage vor Ort äußern.

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Roth sagte, es sei zudem ein "Riesenfehler“ gewesen, die Eishockey-WM 2014 an Weißrussland zu vergeben. Das müsse schnell korrigiert werden. Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko sei ein "brutaler Diktator, der auch vor willkürlichen Hinrichtungen nicht zurückschreckt und die Menschenrechte mit Füßen tritt“.

EU-Kommissare boykottieren EM-Spiele in der Ukraine

Am Donnerstag hatte die EU-Kommission in Brüssel ein Zeichen des Protests gegen die Haftbedingungen Timoschenkos gesetzt: Kommissionspräsident José Manuel Barroso und die anderen 26 Kommissare werden den Spielen der Fußball-EM in der Ukraine fernbleiben, teilte ein Kommissionssprecher mit. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy schloss sich an.

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Barroso habe den EU-Kommissaren erläutert, warum er nicht in die Ukraine reisen werde. In der Aussprache sei "deutlich geworden, dass dies eine Position ist, die alle angesichts der Behandlung von Frau Timoschenko teilen", sagte der Sprecher. Es handele sich um ein Signal, "dass man nicht zufrieden ist mit der Art und Weise, wie mit Julia Timoschenko umgegangen wird". In der Kommission sei unstrittig, "dass es nicht angemessen ist, sich ein Spiel in der Ukraine anzuschauen".

Westerwelle sieht Ukraine unter Druck

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sieht die ukrainische Regierung im Fall Timoschenko unter wachsendem Druck. "Mehr und mehr teilen auch andere europäische Länder unsere deutsche Sorge", sagte er am Rande eines Besuchs in Washington, "das sollte in der Ukraine auch gehört werden." Es könne keine Fortschritte beim Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine geben, solange die rechtsstaatliche Lage in dem Land nicht vorankomme.

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Die Mehrheit der Deutschen ist für einen politischen EM-Boykott in der Ukraine. In einer am Donnerstagabend in Köln veröffentlichten repräsentativen ARD-Umfrage sprachen sich 74 Prozent von rund 1.500 bundesweit Befragten dafür aus, dass Kanzlerin Merkel und ihre Minister aus Protest gegen die Inhaftierung Timoschenkos den EM-Spielen in dem Land fernbleiben sollen. 30 Prozent forderten, dass die Fußball-Mannschaften nur die Spiele in Polen austragen sollen.

Laut Umfrage halten 53 Prozent politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen die Ukraine für angemessen. Das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap hatte im Auftrag der ARD-Tagesthemen von Montag bis Mittwoch 1.504 Wahlberechtigte telefonisch befragt. Die Fußball-EM wird vom 8. Juni bis zum 1. Juli in der Ukraine und Polen ausgetragen. In der Ukraine sind 16 Partien geplant, darunter das Endspiel am 1. Juli in Kiew.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hält einen Boykott hingegen für den falschen Weg. Stattdessen sollten Politiker und Sportfunktionäre, die in die Ukraine reisten, die Gelegenheit nutzen, um auf die schweren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und von der ukrainischen Regierung einen besseren Menschenrechtsschutz fordern, sagte der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Wolfgang Grenz, Handelsblatt Online.

Timoschenkos Tochter: Zustand meiner Mutter wird schlechter

Trotz heftiger Kritik aus Kiew erneuerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Angebot, Timoschenko zur Behandlung nach Deutschland zu holen. Es sei wichtig, "alles dafür zu tun", dass Timoschenko "schnell die richtige Behandlung für ihre Erkrankung bekommt", sagte sie dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Regierungschef Wladimir Putin bot eine Behandlung Timoschenkos in Russland an.

Nach Einschätzung ihrer Tochter hat sich der Gesundheitszustand Julia Timoschenkos weiter verschlechtert. "Sie ist viel schwächer, als sie noch vor ein paar Tagen war“, sagte Jewgenija Timoschenko im ZDF am Donnerstagabend, die ihre Mutter nach eigenen Angaben am selben Tag im Gefängnis besucht hatte. Sie müsse liegen und könne sich zurzeit "praktisch gar nicht bewegen“.

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Die Bitten der Familie, den Hungerstreik zu beenden, seien bislang erfolglos. "Sie hat aus verschiedensten Gründen ein Interesse an diesem Hungerstreik“, sagte die 32-jährige Jewgenija Timoschenko.

Mit Material von rtr, epd und dapd