Die Chance für demokratischen Wandel in der Ukraine ist da. Viel Zeit bleibt aber nicht

In der Geschichte öffnen sich immer wieder Zeitfenster, in denen der Sturz eines Autokraten, der Wandel zu Demokratie oder das Ende eines blutigen Konfliktes möglich sind. Staatsbesuche können dieses Zeitfenster aufreißen oder radikale Protestformen wie ein öffentlicher Suizid, geschehen Anfang 2011 in Tunesien. Er gilt als Beginn der Arabellion.

Auch ein Großereignis wie eine Fußball-Europameisterschaft öffnet Zeitfenster. Denn der Sport ist politisch - und er hat gut einen Monat vor Beginn des Turniers in Polen und der Ukraine den Blick der Medien, der Diplomatie und der Sportverbände auf das Regime des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gelenkt. An seinen Rechtsbrüchen besteht kein Zweifel. Die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko ist Symbol und prominentes Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Doch es geht um mehr als Timoschenkos Schicksal.

Politische Zeitfenster wie die Wochen der EM in der Ukraine sind sensibel. Sie sind eine Chance - aber sie bergen zugleich Gefahren: durch Populismus, Heuchelei, durch Verblendung, aber auch durch Eskalation. Natürlich besteht die Sorge, Janukowitsch könnte das Mega-Event nutzen, um mit viel Glanz und Glitzer von den Verletzungen des Rechts abzulenken.

Es ist vor allem das Verdienst von Timoschenko und ihren Mitstreitern der Opposition, dass dem Herrscher dies nicht gelingen wird. Die EM wird nicht mehr die große Gala des Autokraten werden. Umso fataler ist die populistische Forderung, das gesamte Turnier zu boykottieren oder die EM in Deutschland statt der Ukraine ausrichten zu lassen. Das Zeitfenster der medialen und diplomatischen Aufmerksamkeit würde sich sofort schließen - und die Ukraine stärker isolieren als bisher.

Wer die Ukraine bloß hart bestrafen will, hat nicht erkannt, dass die EU dem Land auf dem Weg zurück zur Demokratie helfen muss. Dafür braucht es Integration statt Eskalation. Und wird aus dem EM-Spektakel ein Debakel für Janukowitsch, braucht die Europäische Union einen zweiten Schritt: durch Diplomatie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kontrolle der Menschenrechte.

Verpasst die EU diesen Schritt, treibt sie die Ukraine weiter in Richtung Russland - so ist das Land ohnehin seit Jahren geteilt in einen pro-westlichen und pro-russischen Teil. Russlands künftiger Präsident Wladimir Putin träumt von mehr Einfluss in der strategisch wichtigen Ukraine - auch um die Macht der Russen auf dem Gasmarkt zu sichern. So ist die Ukraine wichtiges Transitland für russisches Gas in die EU. Die Kritik aus Moskau am Umgang mit Timoschenko hat einen strategischen Hintergedanken, der über dem Interesse an der Wahrung der Menschenrechte steht. Heuchlerisch sind diese mahnenden Worte zudem - angesichts der Berichte über Verstöße gegen die Grundrechte in Russland.

Doch auch die deutsche Politik muss sich kritische Nachfragen gefallen lassen: Bis vor Kurzem interessierte sich weder die Bundesregierung noch die Kanzlerin sonderlich für die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine. Nun meldet sich sogar Umweltminister Norbert Röttgen mahnend zu Wort. Bisher hat er sich nicht als globaler Verteidiger der Menschenrechte einen Namen gemacht. War da was? Richtig, Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Und Röttgen ist Spitzenkandidat der CDU.

Die Bundesregierung, aber auch die EU üben Druck auf Rechtsbrecher Janukowitsch aus. Dafür ist die EM ein wichtiges Mittel. Die EU muss ihm aber auch eine Brücke bauen. Vor allem aber sollten die mahnenden Politiker hartnäckig bleiben, wenn im Juli die Stars ihre letzten Tore geschossen und die Kameras die letzten Jubelbilder eingefangen haben. Das Ringen um Demokratie wird nicht nach 90 Minuten abgepfiffen.