Im Fall Timoschenko will die Bundeskanzlerin den Druck auf die Ukraine erhöhen. In Kiew wird deswegen scharfe Kritik an Merkel geübt.

Berlin/Kiew. Im Streit um das Schicksal der ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko erwägt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nun einen politischen Boykott der Fußball-EM . Sollte die in der Haft erkrankte Politikerin bis zu dem am 8. Juni in der Ukraine und Polen beginnenden Turnier nicht freigelassen worden sein, will Merkel ihren Ministern empfehlen, den Spielen in der Ukraine fernzubleiben, berichtet der "Spiegel".

Als einzige Ausnahme könnte der für Sport zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Spiel Deutschland gegen die Niederlande in die Industriestadt Charkow reisen. Friedrich hat jedoch bereits zur Bedingung gemacht, dass er dann auch die in Charkow inhaftierte Timoschenko besuchen darf. Die Widersacherin von Präsident Viktor Janukowitsch leidet unter starken Rückenschmerzen und wird nach eigenen Angaben nicht ausreichend behandelt. Seit dem 20. April befindet sie sich im Hungerstreik.

Timoschenkos Tochter Eugenia richtete am Wochenende einen dramatischen Appell an die Bundesregierung. "Retten Sie das Leben meiner Mutter, bevor es zu spät ist", sagte die 32-Jährige der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". "Das Schicksal meiner Mutter und meines Landes sind jetzt eins. Wenn sie stirbt, stirbt auch die Demokratie." Ohne den internationalen Druck auf die Regierung in Kiew wäre die frühere Regierungschefin der Ukraine bereits tot, ist Eugenia Timoschenko überzeugt. "Ich bin sicher, wenn der Druck aus Europa nicht wäre, wäre meine Mutter heute nicht mehr am Leben", sagte sie der "Bild am Sonntag".

Das Bundespresseamt wollte sich zu dem "Spiegel"-Bericht nicht äußern. Einer Umfrage zufolge ist eine Mehrheit der Deutschen für einen solchen Boykott: 52 Prozent der Befragten würden sich wünschen, dass Merkel und ihre Minister den deutschen Spielen in dem Land fernblieben, berichtete die "Bild am Sonntag" unter Berufung auf das Institut Emnid. Zudem wollten 50 Prozent der Befragten, dass die Spiele in der Ukraine in ein anderes europäisches Land verlegt werden.

Regierungssprecher Steffen Seibert hatte bereits am Freitag betont, die Politikerin müsse die notwendige medizinische Behandlung erhalten. Deutschland bietet eine Behandlung Timoschenkos durch Spezialisten der Berliner Charité an, die die frühere Regierungschefin bereits in der Ukraine untersucht hatten. Die Frage, ob Merkel zur Fußball-Europameisterschaft in die Ukraine reisen werde, ließ Seibert am Freitag offen. Bei der Entscheidung werde die weitere Entwicklung im Fall Timoschenko berücksichtigt, sagte er.

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth forderten alle Politiker zu einem Boykott der EM-Spiele in der Ukraine auf, sollte das Land hart bleiben. "Politiker müssen bei der EM aufpassen, dass sie nicht zu Claqueuren des Regimes werden", erklärte Gabriel am Wochenende auf seiner Facebook-Seite. "Denn sie sitzen in den Stadien möglicherweise neben Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten." Es könne keinen normalen Umgang mit der Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch geben, solange Menschen aus politischen Gründen in Haft gehalten und misshandelt würden, erklärte er. Roth betonte, Politiker dürften "nicht die Kulisse für ein diktatorisches Regime abgeben".

Schon vor einigen Tagen hatte Merkel in einem Interview den Umgang mit der früheren ukrainischen Regierungschefin scharf kritisiert und deren Behandlung in einem Krankenhaus in Deutschland befürwortet. Dies stieß am Wochenende auf Empörung bei der Regierungspartei in Kiew.

Die Bundeskanzlerin habe offenbar für einen Moment "vergessen", dass sie die Bundesrepublik und nicht die Ukraine regiere, sagte Wassili Kisseljow von der Partei der Regionen. Merkels Äußerungen seien eine "ungenierte Einmischung in die inneren Angelegenheiten" der Ex-Sowjetrepublik, hieß es in einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung Kisseljows. Die Kanzlerin fordere "etwas faktisch Unmögliches" von der ukrainischen Führung.

"Unsere Gesetzgebung sieht eine Behandlung von Gefangenen im Ausland nicht vor", unterstrich der Parlamentarier. Erkrankte ukrainische Strafgefangene könnten nur an ihrem Haftort behandelt werden. Er sei allerdings unter einer Bedingung bereit, einer Gesetzesänderung zuzustimmen, teilte Kisseljow mit: "Wenn Frau Merkel auch die anderen 150 Frauen aus dem Katschanowka-Gefängnis in ihre Obhut nimmt, die die gleichen Probleme haben wie Julia Timoschenko, und sie zur Behandlung in der Charité unterbringt."

Auch der russische Präsident Dmitri Medwedew kritisierte den Umgang des Nachbarlandes mit Timoschenko als "völlig inakzeptabel". Der Staatschef bezeichnete die Situation im Nachbarland als "höchst befremdlich". Der Kreml hatte zuvor bereits mehrfach massive Kritik am Prozess gegen Timoschenko geäußert. Sie war im Vorjahr wegen angeblich einseitiger Gasverträge zugunsten Russlands verurteilt worden.

Timoschenko verbüßt derzeit eine siebenjährige Haftstrafe. Im Westen wurde der Prozess gegen sie als politisch motiviert kritisiert. Ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs der Unterschlagung von mehreren Millionen Euro in ihrer Zeit als Vorsitzende eines Energieunternehmens wurde am Sonnabend auf den 21. Mai verschoben. Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich zuvor Anhänger und Gegner Timoschenkos versammelt und lautstark protestiert.