Würde Julia Timoschenko wollen, dass EM-Spiele nicht in ihrer Heimat, sondern stattdessen in Deutschland stattfinden? Wäre ihr damit geholfen? Ein Kommentar.

Kiew/Berlin. Julia Timoschenko ist derzeit zentraler Bestandteil der Diskussionen über eine (Nicht-)Austragung von Spielen der Fußball-EM in der Ukraine. Jeder, der mitredet, sollte versuchen, sich in die inhaftierte ehemalige Premierministerin des Landes hineinzuversetzen. Würde Julia Timoschenko wollen, dass EM-Spiele nicht in ihrer Heimat, sondern stattdessen in Deutschland stattfinden? Wäre ihr damit geholfen? Täte man irgendeinem Verfechter demokratischer Strukturen in der Ukraine einen Gefallen? Oder einem einfachen Fußball-Fan von Dynamo Kiew, der sich das Geld für eine Eintrittskarte zusammengespart hat?

Natürlich muss die EM in der Ukraine stattfinden. Der Fußball muss Stellung beziehen, die Politik muss Druck aufbauen. Nirgendwo ist die Chance dafür besser als vor Ort. Über das Wie darf diskutiert werden, nicht aber über das Wo. DFB-Boss Wolfgang Niersbach und DOSB-Präsident Thomas Bach taten am Dienstag gut daran, noch mal unmissverständlich darauf hinzuweisen.

Entsprechend energisch sollten die Maßnahmen sein. Sie sollten so ausfallen, dass sich Politiker und vor allem der Sport nicht wie 2008 nach den Olympischen Spielen in Peking den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie hätten sich vor einen Karren spannen lassen. Es dürfte ihnen diesmal leichter fallen, denn die kleine Ukraine ist nicht das große China.

Nicht in die Ukraine zu reisen, ist eine Möglichkeit. Bilder von Staatsmännern oder Sportführern, die Wiktor Janukowitsch auf der Ehrentribüne den Handschlag verweigern, bewirken vermutlich mehr. Oder wenn sie ihren Unmut über den totalitären Herrscher vor den Toren der Arena in Kiew oder vor den Mauern von Timoschenkos Gefängnis in Charkow äußern. Fußball-Profis, die sich den Mund nicht verbieten lassen und im Scheinwerferlicht der Kameras nicht nur den nächsten Gegner im Sinn haben, würden Julija Timoschenko weiterhelfen.

Kreative Statements sind das Mittel der Wahl. Die ausgestreckten Black-Power-Fäuste von Tommie Smith und John Carlos auf dem Siegerpodest der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko-Stadt wirkten jahrelang nach.

Wenn Deutschland am 9. Juni sein erstes Gruppenspiel gegen Portugal in Berlin austrägt, hätten Sport und Politik vor Janukowitsch kapituliert. Dem ukrainischen Volk und Julija Timoschenko wäre damit nicht geholfen.

Machtwort von Bach und Niersbach: Keine Verlegung von EM-Spielen nach Deutschland

DOSB-Präsident Thomas Bach und DFB-Boss Wolfgang Niersbach haben ein Machtwort gesprochen und einer Verlegung von Spielen der Fußball-EM aus der Ukraine nach Deutschland eine klare Absage erteilt. „Mit dem Gedanken beschäftigen wir uns keine Sekunde. Die Menschen in der Ukraine haben die Europameisterschaft verdient“, sagte Niersbach am Dienstag. Bach ist derselben Meinung und wies Forderungen nach einer Verlegung weit von sich.

„Die Forderung zeugt von großer internationaler Respekt- und Instinklosigkeit, weil sie über die Köpfe selbst des Mitgastgeberlandes Polen, aber auch der anderen europäischen Nationen und des Veranstalters UEFA hinweg erhoben wird“, sagte er am Dienstag. Die Forderung sei laut Bach „im Übrigen kontraproduktiv“, weil sie sich auch „gegen den erkennbaren Willen des ukrainischen Volkes“ richte und dazu benutzt werden könne, von der politischen Diskussion über die Menschenrechte in der Ukraine abzulenken. „Schon aus diesen Gründen ist die Verlegung von Spielen nach Deutschland keine Option“, sagte Bach.

Niersbach ergänzte, eine Absage der EM bringe „ebenso wenig wie der Boykott vergangener Sportveranstaltungen“. Wichtig sei das „klare Bekenntnis zu den Menschenrechten und im Fall Timoschenko die Forderung nach einem schnellen Signal der Ukraine“. Das Medienereignis EURO 2012 biete die „einmalige Chance, neben der Berichterstattung über den Fußball auch die Missstände in der Ukraine anzuprangern.“

In der Wochenzeitschrift Die Zeit fügte Niersbach hinzu: „Es sind sich ja alle Entscheidungsträger einig darin, dass ein sportlicher Boykott der Europameisterschaft nichts bringen würde, mehr noch: der ukrainischen Bevölkerung sogar schadete.“ Sollte sich die Lage in der Ukraine weiter zuspitzen, kann er sich jedoch ein gemeinsames Zeichen „im Zusammenspiel mit der UEFA“ vorstellen. Einen Alleingang des DFB schloss er aus.

Jutta Steinbach, menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, hatte eine Verlegung der Spiele „von der Ukraine nach Polen, Österreich oder Deutschland“ in der Bild als „richtiges politisches Signal an die undemokratische Regierung in Kiew“ bezeichnet: „Das würde den größten Druck erzeugen.“ Laut Gabriele Fograscher (SPD), Mitglied des Bundestags-Sportausschusses, böte sich „Deutschland wegen seiner Nachbarschaft zu Polen als Austragungsort an“.

Am Montag hatte Martin Kallen, EM-Turnierdirektor der UEFA, in der Süddeutschen Zeitung eine Verlegung von Spielen nach Deutschland ausgeschlossen. „Das ist unmöglich. Das bekäme man in so kurzer Zeit gar nicht hin“, sagte der 48-Jährige, der erstmals offiziell Notfallpläne der Europäischen Fußball-Union (UEFA) bestätigte. Die Ultima Ratio könnte eine Absage der EURO sein. „Da gäbe es nur eine Möglichkeit: Dann müsste man an eine Verschiebung des Turniers denken, in ein anderes Jahr“, sagte der Schweizer.

Bernhard Witthaut, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, hält dagegen eine Verlegung von Spielen der Fußball-EM aus der Ukraine nach Deutschland für möglich. „Bereits vor mehr als einem Jahr haben sich Vertreter von UEFA, DFB und Bundesinnenministerium an einen Tisch gesetzt, um ein Krisen-Szenario zu entwickeln“, sagte Witthaut der Bild. Das sei bei Großveranstaltungen in politisch instabilen Ländern normal. Aber jetzt bekämen die Überlegungen eine andere Bedeutung.

Das Innenministerium dementierte die Existenz eines entsprechendes Krisenszenarios. Witthaut sagte jedoch: „Fakt ist: Es gibt in der Schublade einen Alternativplan. Danach ist Deutschland in der Lage, kurzfristig die ukrainischen EM-Spiele zu übernehmen. Die Zeit dafür würde auch jetzt noch ausreichen.“

Die EM soll vom 8. Juni bis 1. Juli in Polen und der Ukraine stattfinden. Auslöser der seit Monaten schwelenden Diskussion ist der Umgang mit der in der Ukraine inhaftierten und schwer erkrankten Ex-Premierministerin Julia Timoschenko. Timoschenko, die an Bandscheibenproblemen leidet, verbüßt eine siebenjährige Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs. Die Europäische Union kritisiert ihre Haft als politisch motiviert. Aus Protest gegen ihre Haftbedingungen trat Timoschenko vor mehr als einer Woche in einen Hungerstreik.

Deutschland trägt alle drei Vorrundenspiele in der Ukraine aus. Niersbachs Vorgänger Theo Zwanziger kündigte an, während der EM nicht in die Ukraine reisen zu wollen. „Ich selbst habe entschieden, keine Spiele in der Ukraine zu besuchen, weil ich es nicht gut finde, was dort politisch passiert“, sagte Zwanziger, Mitglied der UEFA-Exekutive, der Bild. (sid)