Gollwitz. Cem Özdemir ist beliebtester Grünen-Politiker. Als Agrarminister hat er es mit mächtigen Lobbygruppen zu tun. Und selbst noch viel vor.

In dieser Rolle fühlt sich Cem Özdemir sichtbar wohl. Auf einer Wiese im ländlichen Gollwitz in Brandenburg an der Havel trifft der Bundesagrarminister auf eine kleine Gruppe von Bauern und Wissenschaftlern. Im Hintergrund grasen Lämmer. Der 57-Jährige hat Schecks über 18 Millionen Euro dabei, um mehrere Projekte zur Wiedervernässung von Mooren zu unterstützen.

Diese sollen das Klima schützen und Bauern eine neue wirtschaftliche Perspektive geben. Genau diese Verbindung, Naturschutz und Landwirtschaft nicht als Gegner zu sehen, sondern gemeinsam zu fördern, liegt dem grünen Politiker besonders am Herzen. Aber auch, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die im ländlichen Raum kreative Ideen entwickeln.

Es ist eine Station seiner Sommerreise „Kraft unseres Landes“, die Özdemir auch durch Ostdeutschland führt. Cem Özdemir begrüßt alle mit Handschlag, blickt jedem in die Augen: „Freut mich, ich bin Cem Özdemir.“ Der grüne Realo lässt sich alle Projekte erklären, hört aufmerksam zu. Er hat aber auch Ohren für die Sorgen.

„Viele Anwohnern fürchten, dass durch die Vernässung bald ihre Keller unter Wasser stehen“, berichtet Landwirt Detlev May. Die Bauern ängstige, dass ihr Land für Anbau und Tierhaltung verloren geht. „Ohne stattliche Hilfe geht das nicht.“ Özdemir verspricht, dass die Vernässung kein Modetrend sei. Denn austrocknende Moore verursachen fast 7 Prozent aller Klimaemissionen.

Cem Özdemir: Mit 17 Jahren wurde er Vegetarier

Özdemir ist in seinem Amt als Agrar- und Ernährungsminister angekommen. Zwar hat der leidenschaftliche Radfahrer für den Posten keine Fachexpertise mitgebracht, dafür aber politischen Instinkt und die Gabe, sich in jedes Thema einarbeiten zu können.

Ganz selbstverständlich redet Özdemir heute über Tierhaltung, Ernährung, Pestizide, Fischereiquoten, Artensterben, Biodiversität oder Genscheren. Vielleicht weiß er nicht jedes Detail, aber er kennt sich im Großen aus. Er besucht Bauern, Tierheime, Adipositas-Stationen, aber auch Dorffeste. Sein Terminkalender ist voll, er ist präsent.

Gerne gibt der zweifache Familienvater dabei auch private Anekdoten preis – dass er mit 17 Jahren Vegetarier wurde, nachdem er jahrelang auf dem Schulweg Pommes oder rote Bockwurst gegessen hatte.

Viele finden ihn nach einer persönlichen Begegnung „sympathisch“, „freundlich“, „er ist ein netter Kerl“. Feinde hat er eigentlich nur unter rassistischen Bürgern.

Der grüne Bundesagrarminister Cem Özdemir auf Sommertour in Gollwitz in Brandenburg an der Havel auf einer Moorwiese.
Der grüne Bundesagrarminister Cem Özdemir auf Sommertour in Gollwitz in Brandenburg an der Havel auf einer Moorwiese. © dpa | Soeren Stache

Özdemir: Eine grüne Parteikarriere mit Hürden

Das Ministeramt ist ein weiterer Höhepunkt in Özdemirs grünen Parteikarriere, die nicht nur gradlinig verlief. Schon als Jugendlicher trat Özdemir den Grünen bei, war im Landesvorstand von Baden-Württemberg. Als erstes Kind türkischer Gastarbeiter zog er 1994 in den Bundestag ein. Er selbst hat einen deutschen Pass, ist in Bad Urach geboren, im Herzen der Schwäbischen Alb.

Der erste Rückschlag: 2002 trat Özdemir als innenpolitischer Sprecher der Fraktion ab, nachdem er wegen privat genutzter Bonusmeilen aus Dienstreisen in die Kritik geriet. Doch er stand wieder auf. Stationen führten Özdemir ins Europäische Parlament, als Co-Bundesvorsitzender leitete er gut zehn Jahre die Grünen.

Für Wirbel sorgte in dieser Zeit eine Hanfpflanze auf Özdemirs Balkon: Das Gewächs war in einem Online-Video deutlich zu erkennen, ein „sanftes, politisches Statement“ sei das gewesen, wie der damalige Grünen-Chef später sagte. Es folgte eine öffentliche Debatte, die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, seine Immunität als Abgeordneter wurde aufgehoben.

Am Ende profitierte Özdemir von der Aktion. Die Ermittlungen wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt – und Özdemir erlangte Sympathien der jungen und linken Grünen, die ihn bis dahin kritisch beäugten

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Özdemir ist beliebt: Nachfolger für grünen "Minischter"-präsidenten?

Zuletzt zog Özdemir mit 40 Prozent der Stimmen in seinem Stuttgarter Wahlkreis mit Direktmandat in den Bundestag - das beste Erststimmenergebnis unter grünen Abgeordneten. Nach der jüngsten Insa-Umfrage ist er der beliebteste Grünen-Politiker – und landet mit Platz 5 noch vor Bundeskanzler Olaf Scholz.

Özdemir hebt immer wieder seine Herkunft als Baden-Württemberger hervor. Schon länger wird spekuliert, dass er spätestens 2026 die Nachfolge des langjährigen, ersten und einzigen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, antreten könnte.

Schwäbisch beherrscht der „Minischter“ jedenfalls perfekt. Er ist großer Fußball-Fan des VfB-Stuttgart, versteht Land und Leute. Ob er das Amt selbst anstrebt, dazu hält sich Özdemir bedeckt. Die Gerüchte ehren ihn zwar. Doch erst mal möchte er „seinen jetzigen Job gut machen“.

Agrarminister: Zwischen den Stühlen der Lobbyisten

Und dieses Amt ist kein leichtes Spiel. Özdemir sitzt zwischen den Stühlen einer mächtigen Lobby aus Bauern, Agrar- und Ernährungsindustrie einerseits und starken grünennahen Organisationen von Tierschützer und Umweltverbänden, deren Forderungen oft konträr lauten. On Top kommt häufig noch eine Blockadehaltung der FDP aus der eigenen Koalition hinzu.

Seine Vorschläge wie die Steuersenkung auf Gemüse und Obst oder ein Verbot von Biosprit blieben aussichtlos. Als größten Erfolg hat Özdemir das erste staatliche Tierhaltungskennzeichen durchs Parlament gebracht. Keinem seiner Vorgänger ist dies gelungen. Noch gilt es nur für Schweine und muss auf andere Tiere ausgeweitet werden. Allerdings werden die Kosten der Stallumbauten noch ein harter Kampf, den am Schluss wohl FDP-Minister Christian Lindner entscheidet.

Für Kantinen hat Özdemir ein Bio-Kennzeichen durchgesetzt und in Kühltheken ein Herkunftskennzeichen für Frischfleisch. Seinem außenpolitischen Interesse entsprechend, kämpft Özdemir zudem gegen den Welthunger und für Getreideexporte der Ukraine.

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Özdemir agiert als moderierender Minister, polternde Machtworte sind ihm fremd. Er sucht bei Kontroversen Kompromisse, ohne jemanden zu verprellen. Er ist ein begabter Redner, gerne auch provozierend. Antworten auf Fragen münden gerne mal in minutenlangen Vorträgen. Twitter ist seit Jahren sein Lieblingsmedium, er hat mehr als 374.000 Followern.

Özdemir: Toleranter Vegetarier, aber für gutes Fleisch

Özdemir ist ein Kämpfer, der sich im zweiten Bildungsweg nach oben gearbeitet hat, wurde Erzieher, studierte Sozialpädagogik. Gleichzeitig lehnt er strikte Verbote ab, appelliert lieber an Einsicht und freiwillige Veränderung. Dankbarkeit, Demut und Respekt sind nicht nur wiederkehrende Worte in seinem Vokabular, sondern er verhält sich auch im persönlichen Umgang danach.

Humor, über sich selbst lachen zu können, ist ihm wichtig. Seine Toleranz wird bei Ernährungsfragen besonders deutlich: Obwohl Vegetarier würde er wohl nie ein Fleischverbot fordern. Vielmehr setzt er auf artgerechte Tierhaltung, „damit gutes Fleisch aus Deutschland auf den Tisch kommt“.

Bei seinem Lieblingsthema – der Reduzierung von Zucker und Salz in Kinderprodukten wie Müsli oder Limos – argumentiert Özdemir sozial und moralisch. So gehe es ihm primär nicht um Werbeverbote, sondern darum, dass auch Kinder aus sozial schwächeren Familien die Chance verdienen, gesund aufzuwachsen.

Hintergrund:Limo, Müsli, Wurst – So ungesund sind Kinder-Produkte

Er wolle es allen recht machen, sei zu zaghaft gegenüber Lobbyisten, durchsetzungsschwach, ein Ankündigungsminister, kritisieren manche Umweltorganisationen und selbst Parteimitglieder. Er dürfe gerne konfrontativer sein und mehr Kante zeigen. Auch Landwirte wünschen sich noch mehr Taten nach Ankündigungen.

Bis 2030 sollen 30 Prozent aller Äcker auf Bio umgestellt sein. Der Tierschutz für Nutztiere und Haustiere soll reformiert werden. Özdemirs Ziele bleiben hochgesteckt – nicht nur in der Landwirtschaft.