Kiew. Stand-up, Musik, Comics: Der Krieg setzt im ukrainischen Kulturbetrieb viel Energie frei. Zum Teil geht es der Szene besser denn je.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine macht der ukrainischen Kultur- und Unterhaltungsbranche schwer zu schaffen. Zwar finden im Land weiterhin Musikkonzerte oder Theatervorstellungen statt. Weil die Auftritte aber jederzeit von einem Luftalarm unterbrochen werden können, denken die meisten Ukrainer zweimal nach, bevor sie zum Beispiel ins Kino gehen. Dennoch erlebt die ukrainische Pop-Kultur einen Aufschwung der besonderen Art: Die Aufgabe, die Menschen nach 15 Monaten Krieg und Elend unterhalten zu müssen, ohne unangebracht zu klingen, ist eine Riesenherausforderung, die sogar neue kreative Energien freisetzt.

Eine Kunstform, die hier besonders heraussticht, ist Stand-up-Comedy: Die Seitenaufrufe der ukrainischen Komiker auf Youtube sind seit Kriegsbeginn rund um das Zehnfache gestiegen. Und Komiker, die vorher zweimal pro Woche auf Bühnen aufgetreten sind, werden derzeit fast für die gesamte Woche gebucht. Ein Faktor des Erfolges ist dabei, dass Stand-up-Vorstellungen meistens in Kellerbars stattfinden, die auf Luftalarm nicht achten müssen. Noch viel wichtiger ist jedoch, dass sich Menschen, die sich während des Kriegs etwa beim Tanzen unwohl fühlen, bei Stand-up keine unangenehmen Gefühle haben. Denn sie fühlen sich von der Tagesaktualität der Comedy angesprochen.

Ukraine-Krieg: Scherzen über Tinder-Dates in Zeiten der Sperrstunde

In einem Stand-up-Witz, der derzeit im ukrainischen Internet viral geht, handelt es sich um die neue Welle der russischen Luftangriffe auf Kiew. „Wenn wir eine Explosion hören, ist diese eigentlich bereits erfolgt“, sagt ein Komiker. „Das ist ein Geräusch aus der Vergangenheit. Es gibt keinen Grund mehr, Angst zu haben.“

Gerne wird auch über russische Generäle oder Machthaber Wladimir Putin gescherzt. Thema vieler Witze ist aber auch schlicht der Alltag, der vom Krieg kaum zu trennen ist: Zum Beispiel Tinder-Dates in Zeiten, in denen nachts nach wie vor eine Sperrstunde gilt. „Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dass es uns als Branche besser als vor dem Krieg geht“, sagt Swjatoslaw Sagajkewytsch, Gründer des Kiewer Projekts Underground Standup. „Wir können aber den Menschen wohl am besten vermitteln, dass wir alle in einem Boot sitzen. Daher ist das irgendwie logisch.“

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Neu formiert hat sich auch die ukrainische Musikszene. Zum einen sind fast alle Popkünstler, die früher auf dem russischen Markt erfolgreich waren, endgültig ins Ukrainische gewechselt. Zum anderen ist das Genre der Kriegslieder neu entstanden. Ein aktueller Hit ist etwa der Song Fortezja Bachmut („Festung Bachmut“) von der populären Rockband Antytila (auf Deutsch: Antikörper). Der Song ist einerseits eine mächtige, patriotische Rockhymne, andererseits ein doch sehr nachdenkliches Lied. Darüber hinaus werden die Charts aber auch von Liedern dominiert, die den Krieg ansprechen, aber nicht so ernst sind.

Der Schlagersong Ukrajina Peremosche („Die Ukraine wird siegen“) etwa deutet sehr klar den Satz „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ an, den ein ukrainischer Soldat Ende Februar 2022 auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer im Angesicht der „Moskwa“ ausstieß, dem Flaggschiff der russischen Scharzmeerflotte. Die Russen forderten die ukrainische Einheit zur Aufgabe auf. Später versenkten ukrainische Raketen die Moskwa – was einer Demütigung für Russland und Präsident Putin gleichkam.

In einem weiteren Hit, einer lustigen Mischung aus Dance und Folk, wird die kurze ukrainische Begrüßung Dobryj Den Everybody („Guten Tag allerseits“) vom britischen Ex-Premier Boris Johnson gesampled. Obwohl schon länger nicht mehr im Amt, bleibt Johnson, der Kiew seit dem 24. Februar 2022 dreimal besuchte und viel für die Bewaffnung der Ukraine tat, im Land eine Kultfigur: Es gibt Boris-Johnson-Burger und Croissants, auch T-Shirts mit seinem Gesicht sind auf den Straßen keine Seltenheit.

Pop-Kultur: Wie Olaf Scholz als Meme Karriere machte

So wie Johnson hat auch Deutschland mittlerweile einen festen Platz in der ukrainischen Pop-Kultur. Anfang des Jahres, als die Debatte zur Lieferung von Leopard-Kampfpanzern ihren Höhepunkt erreichte, war die Wahrnehmung noch leicht negativ: Internet-Memes, die Bundeskanzler Olaf Scholz als eine Art russische Panzerabwehrwaffe zeigten, waren zu dem Zeitpunkt sehr beliebt. Als dann aber die Zusage zur Panzerlieferung kam, gingen die Verkäufe der Kleidung mit eigentlich längst aus der Mode gefallenen Leopardenprints in die Höhe – und bleiben seitdem unverändert stabil.

Auch sehr nachgefragt sind Geparden und Leoparden als Plüschtiere, genau wie der Hund Patron, ein Jack Russel Terrier des ukrainischen Katastrophenschutzes, der als Sprengstoffhund im nördlichen Bezirk Tschernihiw eingesetzt und dadurch landesweit bekannt wurde. Zu den Abenteuern von Patron gibt es inzwischen sogar einen erfolgreichen Kindercartoon.

Mitunter ruft die Kommerzialisierung von Kriegserfahrungen jedoch auch Protest hervor: So gibt es etwa heftige Kritik an Versuchen, Alkoholgetränke nach Kriegsschauplätzen zu benennen. Das Dorf Tschornobjakiwka im Bezirk Cherson kennt jeder Ukrainer, weil während der Besatzung auf dem dortigen Militärflugplatz mehrfach Unmengen russischer Technik vernichtet wurde. Als eine Brauerei ihr Bier danach benannte, fanden das die Konsumenten jedoch gar nicht lustig. Gleiches gilt für das Getränk „Kombucha Butscha“.

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