Kiew. Putin deutete in Reden an, dass die Ukraine seiner Meinung nach keine Existenzberechtigung habe. Liegt der Grund in der Geschichte?

  • In den Augen von Wladimir Putin ist die Ukraine kein souveräner Staat
  • Mit dem Ukraine-Krieg stellt er das unter Beweis
  • Pseudo-Belege für seine Argumente findet er in der Geschichte des Landes

Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine kam im Februar 2022 mit Ankündigung: In einer Rede kurz vor Kriegsbeginn hatte er klargemacht, dass es ihm um die ganze Ukraine geht, nicht nur um Donezk und Luhansk. Drei Tage später schlugen russische Raketen am Rand von Kiew und in anderen Teilen des Landes ein, das für den Präsidenten keine Existenzberechtigung hat. "Die moderne Ukraine ist ganz und gar von Russland geschaffen worden. Sie ist nie eine wahre Nation gewesen", hatte Putin zuvor gesagt. In seinen Augen existiert die Ukraine nur, weil Moskau es zugelassen hat.

Liegt Putins Kriegsgrund weit in der Geschichte? Die Rede des Präsidenten im Staatsfernsehen wirkte wie eine Geschichtsstunde eines genervten Oberlehrers, der nicht begreifen kann, warum seine Zuhörerinnen und Zuhörer, warum die Welt da draußen einfach nichts kapiert. "Russia Today" lieferte die englische Übersetzung nahezu zeitgleich mit, damit Putin auch verstanden wird, wo er sich unverstanden fühlt: in den USA, in Europa. Drei Tage später zeigte er, dass es keine Geschichtslektion war. Der Präsident meinte es bitterernst mit seinen Zweifeln an einer eigenständigen Ukraine.

Ukraine: Die Geschichte der eigenen Staatlichkeit

Im Laufe der wechselvollen Geschichte gehörte das Territorium der heutigen Ukraine zu mindestens 14 Staaten – unter anderem zu Polen-Litauen, dem Russischen Reich, der Habsburgermonarchie und der Sowjetunion. Wie Russland und Belarus versteht sich die Ukraine als Nachfolgestaat des historischen Reiches der Kiewer Rus. In diesem ostslawischen Zusammenschluss von Fürstentümern des 10. und 11. Jahrhunderts sehen die Ukrainer den Beginn ihrer eigenen Staatlichkeit.

Für die Russen ist er der Anfang des Russischen Reichs und seit der Taufe von Großfürst Wladimir (ukrainisch: Volodymir) auch Teil der orthodoxen Christenheit. Über diese unterschiedlichen Auffassungen kam es bald zum Streit. Für die Ukrainer, die ihre Eigenständigkeit verteidigen, ist das wichtig. Sie berufen sich darauf, dass ihr Staat einen Vorläufer in der Vergangenheit hat. Lesen Sie auch: Völkerrecht: Diese Grausamkeiten zählen als Kriegsverbrechen

Das Reich der Kiewer Rus vereinigte die Ostslawen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Es zerfiel nach der Invasion der Mongolen im 13. Jahrhundert in mehrere Fürstentümer. Im 14. Jahrhundert kam der Großteil des ukrainischen Gebiets unter die litauisch-polnische Oberherrschaft. 1569 wurde es dann Teil des Königreichs Polen. Viele ukrainische Bauern wurden abhängig vom polnischen Adel. Gleichzeitig traten immer mehr reichere ukrainische Adligen zum katholischen Glauben über. Der westliche Einfluss auf die Ukraine nahm zu. Deutsche und Juden ließen sich dort nieder.

Ukraines Zugehörigkeit zu Polen-Litauen

In der Ukraine betont man heute, dass die westlichen und zentralen Gebiete der Ukraine länger zu Polen als zu Russland gehörten. Für viele Russen bedeute dagegen die Zugehörigkeit zu Polen-Litauen eine Zeit der Fremdherrschaft und Unterdrückung ihres orthodoxen Glaubens.

Vor allem im Osten wehrten sich die Kosaken gegen die polnische Herrschaft. Viele von ihnen waren entflohene Bauern. Sie lebten an der Grenze zur Steppe und schufen ein Gemeinwesen, das demokratische Züge hatte. Sie waren für ihre wendigen Reiterverbände bekannt. Vom Siedlungsgebiet der Kosaken am Unterlauf des Dnjepr hat das Land seinen Namen: "Ukraina" – Grenzland.

Der große, erfolgreiche Aufstand gegen die polnische Herrschaft begann schließlich 1648. Er wurde von den Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzkyj angeführt. Es entstand ein eigenständiger Kosakenstaat.

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Ukraine: Zusammenschluss mit Russland

Chmelnyzkyj und die Saporoscher Kosaken waren im Kampf gegen Polen aber auf Verbündete angewiesen. Sie stellten sich deshalb bald unter den Schutz des Moskauer Zaren. Die Kosaken sahen die Verbindung mit Russland als Schutzherrschaft auf Zeit an. Aber nach Ansicht des Zaren hatten sich die Kosaken ihm unterworfen. Aus russischer Sicht war es der erste und wichtigste Schritt für die "Wiedervereinigung" mit der seit dem Mongolensturm von Russland getrennten Ukraine.

"Vor langer Zeit nannten sich die Bewohner der südwestlichen historisch altrussischen Länder russisch und orthodox", sagte der Präsident in der Rede am Montag: "So war es vor dem 17. Jahrhundert, als sich ein Teil dieser Territorien dem russischen Staat anschlossen. Und so war es danach." Nur zwei Jahre hielt der Zusammenschluss. Aber davon sagte Putin nichts.

Die Erinnerungen an den Freiheitsdrang der Kosaken blieben lebendig. Die ukrainische Nationalhymne endet heute mit dem Refrain: "Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit hin, und wir werden zeigen, Brüder, dass wir vom Stamm der Kosaken sind!"

18. Jahrhundert: Russland wächst, die Ukraine verschwindet

Im 18. Jahrhundert wuchs das Russische Reich immer weiter und zählte zu den europäischen Großmächten. Von den letzten Resten der eigenständigen Ukraine war bald nichts mehr übrig. Das lag auch an den drei Teilungen Polens. Das Zarenreich erhielt weite Gebiete im Osten, die Habsburger die westlichen Gebiete um Lemberg (Lwiw). Die Zaren trieben in ihrem Teil die Russifzierung voran. Dagegen konnte sich unter der habsburgischen Herrschaft die ukrainische Sprache und Kultur weiterentwickeln. Im Ersten Weltkrieg kämpften Ukrainer in den Heeren Österreich-Ungarns und Russlands gegeneinander. Der Krieg führte zum Zusammenbruch beider Imperien.

Nach der Oktoberrevolution in Russland und der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 wurde die Ukraine als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der UdSSR. Die Sowjetunion wurde aufgeteilt – streng nach sprachlichen und ethnischen Kriterien. Die Ukrainische Sowjetrepublik war der Kern des heutigen Nationalstaates. Denn anders als im Zarenreich erkannte Lenin die Ukrainer in der Sowjetunion als eigene Nation an. Ein großer Fehler, wie Putin findet. Nach seiner Darstellung haben erst die Bolschewiken um Revolutionsführer Lenin die Ukraine 1917 geschaffen. Man könne sie deshalb "Wladimir-Iljitsch-Lenin-Ukraine" nennen: "Er ist der Schöpfer und der Architekt", sagt Putin.

Stalin: Lenins Nachfolger vollzog Kurswechsel

Lenins Nachfolger Josef Stalin vollzog in der Nationalitätenpolitik einen radikalen Kurswechsel. Stalin sah in der Ukraine einen Unruheherd und überzog sie mit Terror, den Putin in seine Rede mit keinem Wort erwähnte. In der Ukraine stehen die frühen 30er Jahre für Fremdbestimmung und Tod. Es brach eine gigantische Hungersnot aus, nachdem Stalin 1931 die Abgaben auf Getreide für die ukrainischen Bauern drastisch erhöht hatte. Sie dauerte bis 1933.

Nach neusten Schätzungen verhungerten 3,5 Millionen Menschen in der Ukraine. Holodomor (Hungertod) wird heute von der ukrainischen Regierung als Genozid am ukrainischen Volk bezeichnet. Seine Leugnung steht unter Strafe. Die Forschung geht heute davon aus, dass Stalin den Ukrainern misstraute und deshalb gegen die Bauern besonders unbarmherzig vorging. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock legte bei ihrem zweiten Besuch in der Ukraine an der Holodomor-Gedenkstätte einen Kranz nieder.

Nach dem zweiten Weltkrieg blieb die Ukraine Teil der UdSSR. Anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit schenkte der neu gewählte sowjetische Parteiführer Nikita Chruschtschow der Ukrainischen Sowjetrepublik 1954 die schwer zerstörte Halbinsel Krim zum Geschenk. Nach der Auflösung der UdSSR wurde die Ukraine unabhängig. Die Krim hat der russische Präsident 2014 zurückerobert. Über die Ukraine sagte er: "Wir sind nicht nur Nachbarn, wir sind faktisch ein Volk." Für viele Ukrainer klang das schon damals wie eine Drohung. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind schließlich die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.

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Dieser Artikel ist zuerst bei morgenpost.de erschienen.