Cherson. Schon vor der Staudamm-Explosion glich das Leben im südukrainischen Cherson einem Albtraum. Mit dem Wasser droht neues Leid.

Wieder nähert sich ein Schlauchboot. Ein Soldat zieht es aus dem Wasser, zwei Soldaten helfen einer älteren Frau beim Aussteigen. Als sie auf dem Trockenen steht, schaut sie sich verstört um und klammert drei Taschen mit ihren Habseligkeiten an sich. Aus einer schaut ihre kleine Katze verängstigt heraus. Olha hat eine schreckliche Nacht hinter sich, wie so viele Menschen im Süden der Ukraine. Über Nacht ist das Wasser in Cherson weiter gestiegen.

Es ist der Tag nach der Explosion an der Staumauer in Nowa Kachowka. Wassermassen sind aus dem beschädigten Bauwerk geströmt, der Dnipro hat sein Flussbett verlassen und sich in den anliegenden Ortschaften ausgebreitet. Zwanzig Dörfer auf der westlichen Seite des Flusses sind überflutet, auch die ufernahen Distrikte der siebzig Kilometer von Nowa Kachowka entfernten Großstadt Cherson. Retter sind im Dauereinsatz, um den von der Überschwemmung betroffenen Menschen zu helfen.

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Ein Polizist lässt sich von Olha ihren Pass zeigen, fragt, wo sie herkommt. Es kursieren Gerüchte, russische Saboteure könnten die Katastrophe nutzen, um sich in die Stadt einzuschleichen. Die russischen Streitkräfte liegen seit ihrem Rückzug aus Cherson im November auf der anderen Seite des Flusses und beschießen von dort beständig die Stadt.

Der Beschuss hört trotz der humanitären Notlage nicht auf

Der Beschuss hört trotz der Katastrophe nicht auf und geht auch am Donnerstag während der Rettungsmaßnahmen weiter. Ein Bild eines Filmteams vor Ort zeigt einen Einschlag neben einem Rettungsboot: Eine gewaltige Wasserfontäne steigt in die Höhe.

Ein 93-jähriger Mann, ein Polizist, zwei Retter, ein Arzt und drei andere Menschen sind nach Angaben des Innenministeriums in Kiew verletzt worden. Ein weiteres, neuestes Opfer ist nach unseren Informationen ein 25-jähriger Deutscher, der als Freiwilliger geholfen haben soll. Er hat Kopfverletzungen erlitten und ist gegen 15 Uhr ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Verletzungen sind nicht lebensbedrohlich. Auch eine Schule, die als Sammelpunkt für gerettete Menschen genutzt wird, ist nach Angaben des Bürgermeisters unter Feuer geraten. Das Militär wies die Presse deswegen an, die Stadt zu verlassen.

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Freiwilliger Helfer aus Cherson: „Es ist ein Albtraum“

„Ich habe heute Nacht kein Auge zugemacht“, erzählt Olha, „ich war viel zu verängstigt. Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas möglich ist.“ Sie lebt im dritten Stock eines Wohnhauses an der Lesna-Straße im Hafenbereich. „Ich habe gestern erst gedacht, das Wasser zieht sich zurück, aber es ist weiter gestiegen.“ Als am Morgen das Erdgeschoss ihres Hauses überflutet wird, entscheidet sie sich, die Retter zu informieren. Sie packt das Nötigste ein, schnappt sich Jessica, ihre 17 Jahre alte Katze und wartet, bis Hilfe kommt. Jetzt will sie bei Verwandten unterkommen.

Durch die Teilsprengung des Kachowka-Staudamm ist am 6. Juni 2023 in der ukrainischen Stadt Cherson zu einer Überschwemmung gekommen.
Durch die Teilsprengung des Kachowka-Staudamm ist am 6. Juni 2023 in der ukrainischen Stadt Cherson zu einer Überschwemmung gekommen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

An der Vorontsovska-Straße, wo die Boote anlanden, stehen Polizisten, Soldaten, Anwohner, Journalisten. In Käfigen sitzen zitternde bellende und winselnde Hunde und ängstlich miauende Katzen, um die sich Tierretter kümmern. Vielen der Menschen hier steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Am Vorabend war das Wasser noch einige Hundert Meter entfernt.

Bis zum Mittag holen die Rettungskräfte in der Region Cherson etwa 1750 Menschen aus den überfluteten Gebieten, darunter mehr als einhundert Kinder. Nicht alle Helfer sind Profis. Dmytro Kurash, 54, hat sich freiwillig gemeldet. Er hat ein kleines Schlauchboot organisiert, mit dem er und ein Freund an diesem Morgen vier Menschen und zwei Hunde gerettet hat. „Es ist ein Albtraum, mir tun diese Menschen leid“, sagt er.

Beschuss hört auch angesichts der Katastrophe nicht auf

Kurze Zeit später steuert er sein Boot in die Überflutungsgebiete, entlang an Wohnhäusern, die bis zum Dach unter Wasser stehen. Bis zu vier Meter hoch stehen die Fluten hier. Ein älteres Paar winkt vom Balkon eines mehrstöckigen Wohnhauses. Nein, sie brauchen keine Hilfe, signalisieren sie. „Manche Menschen wollen nicht gerettet werden“, sagt Kurash. Die Menschen in Cherson haben die russische Besatzung zwischen März und November durchlitten, sie erleben den täglichen Beschuss. „Viele denken wohl, sie überstehen auch dies Katastrophe ohne Hilfe“, glaubt Kurash.

Menschen rufen aus ihren Häusern um Hilfe. Durch das verseuchte Wassr drohen sich Krankheiten auszubreiten.
Menschen rufen aus ihren Häusern um Hilfe. Durch das verseuchte Wassr drohen sich Krankheiten auszubreiten. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Als Olha Tsilyenko von dem Schrecken berichtet, der ihr und ihren Kindern widerfahren ist, donnern dumpfe Explosionen. Es sind die Einschläge von russischen Geschossen aus Mehrfachraketenwerfern. Die russischen Streitkräfte haben sich vom anderen Ufer des Flusses zurückziehen müssen. Cherson liegt aber immer noch in Reichweite ihrer Artillerie. Tsilyenko zuckt nicht, als sie das Donnern hört.

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Die 52-Jährige leitet eine Hilfsorganisation, die nach ihrer 19-jährigen Tochter Sofia benannt ist. Seit mehr als einem Jahrzehnt kümmert sie sich um Kinder mit Behinderungen. Im Erdgeschoss eines Wohnblocks im Zentrum von Cherson hat ihre Organisation ihren Sitz, hier haben sie vor dem russischen Überfall Reha-Maßnahmen angeboten und während der Besatzung Lebensmittel an bedürftige Familien verteilt. Vor einem Monat ist ein Geschoss vor dem Haus explodiert, an der Vorderseite sind die Scheiben zu Bruch gegangen, viele Fenster sind mit Sperrholz verrammelt. Jetzt ist die Einrichtung eine Notunterkunft für die Familie Tsilyenko. Die Helferin braucht selbst Hilfe.

Flut hat Fäkalien aus Senkgruben in die Häuser gespült

„Wir haben ein Haus an der Tschaikowsky-Straße“, erzählt sie. Die Straße liegt im Korabelny-Distrikt, sie ist nah am Fluss. Am Dienstagmorgen schaut Tsilyenko als Erstes Nachrichten, so wie sie es immer seit eineinhalb Jahren macht. „Da haben sie über den Dammbruch berichtet.“ Ihr ist sofort klar, dass das eine Katastrophe und eine Bedrohung ist. In der Chatgruppe der Nachbarschaft diskutieren sie, was zu tun ist. „Wir haben uns immer selbst organisiert.“ Doch diesmal können sie wenig tun.

Überflutete Straßen in Cherson, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde. Das Wasser steht bis zum Dach.
Überflutete Straßen in Cherson, nachdem der Kachowka-Damm gesprengt wurde. Das Wasser steht bis zum Dach. © dpa | Libkos

Um zehn Uhr kommt das Wasser in Cherson an. Sofia hilft älteren Nachbarinnen aus ihren Wohnungen. Dann müssen Olha, Sofia und der Sohn Nazar, 16, selbst fliehen. „Wir haben nur das Allernötigste mitnehmen können.“ Die kleine Hündin Luna kommt auch mit. Die 52-Jährige zeigt auf ihrem Telefon mit zitternden Fingern Bilder und Videos, auf denen die Verwüstung ihres Hauses zu sehen sind. Das Wohnzimmer, die Küche, alles unter Wasser. „Jetzt steht das Wasser wahrscheinlich bis zur Decke“, sagt sie.

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Was da in ihrem Haus steht, ist aber nicht nur Flusswasser. In ihrer Nachbarschaft gibt es keine Kanalisation, sie nutzen dort Senkgruben. Die Flut hat die Fäkalien auf die Straßen und in die Häuser gespült. „Wir haben jetzt Sommer, die Gefahr von Infektionen wird enorm steigen“, ahnt sie.

Frau wird von Rettungskräften tot in ihrem Bett gefunden

Wegen des ständigen Beschusses leben in den rund tausend Häusern in der überfluteten Nachbarschaft der Tsilyenkos nur noch wenige Menschen, die nach der Flut in Sicherheit gebracht werden müssen. Trotzdem spielen sich auch dort dramatische Szenen ab. „Ein älteres Paar hat die Nacht auf einem Schrank verbracht.“ Eine Nachbarin sei von Rettungskräften tot in ihrem Bett gefunden worden. Offizielle Zahlen zu den Opfern der Katastrophe gibt es noch nicht.

Gegen Mittag scheint das Hochwasser in Cherson seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Die Langzeitfolgen der Katastrophe sind aber noch nicht absehbar. Allein auf der von den Russen nicht besetzten westlichen Seite des Dnipro sollen nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums zehntausend Hektar Ackerflächen überflutet sein, auf der anderen Seite deutlich mehr. 31 Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft können nicht mehr versorgt werden. Der Süden der Ukraine könnte zu einer Wüste werden.

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