Brüssel. Ärzte schlagen Alarm: Neue Auflagen für Medizinprodukte in der EU gefährden die Versorgung von Patienten, es gibt erste Todesfälle.

Der Skandal um minderwertige Brustimplantate aus Frankreich beschäftigt immer noch die Justiz. Hunderttausende Frauen, auch aus Deutschland, wurden Opfer von medizinischem Pfusch, weil der Hersteller PIP für seine Implantate jahrelang billiges Industriesilikon verwendete – die Kissen reißen leichter, Gel sickert aus und verursacht teils heftige Entzündungen. Tausende Frauen mussten erneut operiert werden. Um Schadenersatz für die Opfer wird bis heute gestritten. Doch jetzt sorgen auch die politischen Folgen des Skandals für Ärger und Proteste.

Hat die Europäische Union die falschen Lehren aus dem Einlagen-Pfusch gezogen? EU-Politiker und Ärzte auch in Deutschland sprechen von einer „dramatischen Lage“. Der EU-Abgeordnete und Gesundheitsexperte Peter Liese (CDU) sagt: „Die medizinische Versorgung in der EU ist in höchster Gefahr. Viele lebenswichtige Medizinprodukte stehen vor dem Aus.“

Denn die EU hat als Konsequenz die Medizinprodukteverordnung (MDR in der englischen Abkürzung) massiv verschärft, voriges Jahr trat sie in Kraft. Rund 20.000 Instrumente, Geräte und Hilfen müssen bis 2024 neu zertifiziert werden, auch solche, die schon viele Jahre erfolgreich und sicher genutzt werden: Katheter, Herzschrittmacher, Röntgengeräte, Prothesen, chirurgische Instrumente, Seh- und Hörhilfen.

Kinderarzt klagt: Einige Kinder sind wegen der Engpässe gestorben

Doch die Zertifizierung dauert viel länger als gedacht, sie ist mit Kosten in teils sechsstelliger Höhe oft sehr teuer und mit enormer Bürokratie verbunden. Zahlreiche Hersteller auch in Deutschland warten verzweifelt auf die weitere Zulassung, immer öfter verzichten sie aber auch die Prozedur und nehmen Produkte lieber vom Markt.

Die Folge: Klinisch wichtige Geräte sind plötzlich nicht ausreichend verfügbar – heikel vor allem bei Spezialinstrumenten, die nur in kleiner Stückzahl hergestellt werden, etwa für die Kinderchirurgie.

So werden etwa Ballonkatheter für Kinderherzen knapp, wie der Kinderkardiologe und Direktor am Universitätsklinikum München, Nikolaus Haas, berichtet. Er schildert Fälle, in denen es an Instrumenten für die Operation von Frühgeborenen mit Herzfehlern mangelte: „In Europa sind schon einige Kinder wegen der Engpässe gestorben.“ Das Leben vieler weiterer Kinder sei in Gefahr, warnt Haas.

Eine Herzoperation in Berlin. Auch Herzschrittmacher und Herzkatheter fallen unter das geänderte EU-Gesetz zu Medizinprodukten.
Eine Herzoperation in Berlin. Auch Herzschrittmacher und Herzkatheter fallen unter das geänderte EU-Gesetz zu Medizinprodukten. © dpa | Maurizio Gambarini

Andreas Halder, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, erklärt: „Es ist zu befürchten, dass wir einigen Patienten bald sagen müssen: Es tut uns leid, wir müssen Ihren Operationstermin absagen, wir bekommen keine passende Prothese für Sie“.

Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags ergab, dass mindestens die Hälfe der betroffenen deutschen Hersteller schon Produkte oder komplette Sortimente gestrichen haben. Eine Rolle spielt dabei, dass es zu wenig Stellen gibt, die die Zertifikate ausstellen können, und die auch noch langsamer arbeiten als gedacht: Die Zertifizierung dauert im Schnitt 13 bis 18 Monate, bislang sind gerade 15 Prozent der Fälle abgeschlossen – bis 2024 ist der Rückstand nicht mehr aufzuholen.

EU-Kommission zu Medizinprodukten: „Die Situation ist kritisch“

Inzwischen ist auch die EU-Kommission alarmiert: „Mit mehr als 20.000 auslaufenden Zertifikaten ist die Situation kritisch“, räumt ein Kommissionsbeamter auf Anfrage unserer Redaktion ein. Die Behörde sei „sehr besorgt“ über die Kapazitäten zur Zertifizierung und die Vorbereitungen der Hersteller.

Der Druck wächst auf Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides und Präsidentin Ursula von der Leyen, auch wenn die Verordnung vor ihrer Amtszeit beschlossen wurde. Konservative und liberale EU-Abgeordnete haben von der Leyen in einem Brandbrief gewarnt, das Gesetz „schadet den Patienten und setzt die Arbeit von Ärzten und Gesundheitspersonal aufs Spiel“.

Die CSU-Abgeordnete Angelika Niebler sagt: „Es brennt. Das Gesetz war gut gemeint, aber nicht gut gemacht“.

Die Forderungen der Kritiker aus Politik, Medizin und Wirtschaft sind vielfältig: Sie reichen von einer einfachen Fristverlängerung für die Zertifizierung, wie sie auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in Brüssel befürwortet, über Ausnahmen für bereits etablierte Produkte, die mindestens unbürokratischer behandelt werden müssten, bis zu einer Komplett-Revision.

Gesundheitsexperte Liese zeigt sich inzwischen hoffnungsvoll, dass von der Leyen einlenkt. Doch bislang zögert die EU-Kommission. Von einer Gesetzesänderung ist immer noch nicht die Rede: Die Kommission verweist auf Anfrage unserer Redaktion auf eine bereits eingesetzte Koordinierungsgruppe, die für eine Beschleunigung innerhalb des geltenden Rechtsrahmens sorgen soll.

Die Kommission werde, wie vor Monaten vereinbart, bei der nächsten Sitzung der Gesundheitsminister der EU im Dezember „Orientierungen für Lösungen vorlegen“, sagt ein Beamter. Weiteren Bedenken „hört die Kommission aufmerksam zu“.

Mangelhafte Brustimplantate: Rechtsstreit um Schadenersatz - Hoffnung für Opfer?

Nach entschlossenem, schnellem Handeln in Brüssel klingt das nicht. Experten sind alarmiert, die Zeit drängt, es kommt für die Hersteller jetzt auf jeden Monat an. Eine Fristverlängerung um vielleicht ein halbes Jahr reiche sicher nicht aus, sagt die EU-Abgeordnete Niebler.

Kinderkardiologe Haas betont, ohne substanzielle Änderung bedeute das Gesetz „einen Rückschritt der Qualität der Kindermedizin in Europa um etwa 30 Jahre.“ Der Mediziner fordert: „Wir brauchen den sofortigen Stopp dieser inhaltlich schlecht gemachten Verordnung. Eine bloße Ergänzung reicht nicht.“

Der Streit um die mangelhaften Brustimplantate, die vor einem Jahrzehnt erstmals entdeckt wurden, geht unterdessen weiter. Zuletzt wurde der TÜV Rheinland, der die Einlagen für unbedenklich erklärt hatte, von einem Gericht in Frankreich in erster Instanz zur Entschädigung von 1600 klagenden Frauen verurteilt. Ein Sachverständiger soll die Angelegenheit weiter untersuchen. Wird das Urteil rechtskräftig, könnte es Auswirkungen auf zehntausende weitere Opfer aus Dutzenden von Ländern haben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de