Berlin. Irene Becker gilt als Expertin für Armutsforschung. Die Bürgergeld-Pläne sieht sie kritisch – weitere Nachbesserungen seien nötig.

Mit dem Jahreswechsel soll die Zeit von Hartz IV enden – stattdessen will die Bundesregierung das sogenannte Bürgergeld einführen. Lange hatte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) um sein Prestige-Projekt gekämpft. Inzwischen sind Details zur geplanten Änderung bei der Grundsicherung bekannt. Irene Becker, promovierte Volkswirtin und Armutsforscherin, sieht vieles davon kritisch. Im Interview erklärt sie, wo ihrer Meinung nach noch Handlungsbedarf besteht.

Die Bundesregierung will Hartz IV in ein Bürgergeld umwandeln. Pro Monat soll es für Empfängerinnen und Empfänger rund 50 Euro mehr geben. Wie stufen Sie diese Erhöhung ein?
Irene Becker: Dieser Mehrbetrag entspricht ungefähr der Entwicklung der Preise, die für den Regelbedarf relevant sind. Das ist eigentlich nur ein Inflationsausgleich, vielleicht ein bisschen mehr. Eine reale Verbesserung ist damit nicht verbunden. Vielmehr ist es so, dass im laufenden Jahr schon erhebliche reale Verluste im Lebensstandard der Grundsicherungsbeziehenden auflaufen. Wenn man den Preisindex verfolgt, der hier relevant ist, summiert sich der Verlust für Alleinlebende voraussichtlich auf gut 400 Euro. Für Familien sieht es noch dramatischer aus.

Jetzt muss man natürlich gegenrechnen: Wir hatten in diesem Jahr Entlastungspakete. Da gab es zum Beispiel eine Einmalzahlung von 100 Euro. Dadurch reduziert sich der Fehlbetrag auf etwa 300 Euro. Wenn man die Energiepreispauschale einbezieht, würde in diesem Jahr zumindest für Erwerbstätige, sogenannte Aufstockerinnen und Aufstocker, sowie für Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung ein Ausgleich erfolgen. Für Arbeitslose nicht, die bleiben auf einem realen Minus sitzen. Und daran wird auch das Bürgergeld nichts ändern.

Irene Becker, promovierte Volkswirtin und Armutsforscherin.
Irene Becker, promovierte Volkswirtin und Armutsforscherin. © privat | privat

Wie ist aktuell die Situation für Menschen, die von Hartz IV leben? Leben sie in Armut? Und wie definieren wir in Deutschland Armut?
Becker: Nach der bei uns üblichen Vorgehensweise berechnen wir die Armutsgrenze anhand des mittleren, bedarfsgewichteten Einkommens. Dabei liegen 50 Prozent der Bevölkerung mit ihrem Einkommen unter diesem Wert und 50 Prozent darüber. Im nächsten Schritt geht man davon aus, dass ein teilnehmendes Leben in der Gemeinschaft nicht mehr möglich ist, wenn man weniger als 60 Prozent von diesem Betrag hat. Dann lebt man in Armut. Lesen Sie dazu: 13 Millionen Menschen in Deutschland von Armut bedroht

Um abschätzen zu können, ob Grundsicherungsbeziehende in Armut leben, kann man das Niveau des Regelbedarfs mit dieser Armutsschwelle vergleichen. Da kommen wir auf erhebliche Unterschiede. Bei Alleinlebenden haben wir etwa einen Rückstand von 30 Prozent. Diese Person liegt mit ihrem Einkommen also ungefähr 30 Prozent unter der Armutsgrenze. Auch für die meisten Familien ergeben sich da erhebliche Unterdeckungen. Man kann also davon ausgehen, dass diese Menschen arm sind.

In Deutschland gibt es ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wird dieses Recht mit dem Bürgergeld geachtet?
Becker: So wie das Bundesverfassungsgericht sich 2014 geäußert hat, wird man dieses Grundrecht mit dem Bürgergeld wohl gerade noch erfüllen. Bereits damals kam man mit den Regelsätzen an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich möglich ist. Wenn jetzt ein Inflationsausgleich dazu kommt, würde das Gericht vermutlich wieder sagen, dass das gerade noch verfassungsgemäß ist. Ohne ihn würde der Gesetzgeber garantiert am Kriterium des menschenwürdigen Existenzminimums scheitern. Und ich denke, dass man das in Berlin auch so gesehen hat und entsprechenden Klagen zuvorkommen wollte.

Neben der Erhöhung der Regelsätze sind noch weitere Änderungen geplant. Wie beurteilen Sie das Gesamtpaket.
Becker: Geplant sind zum Beispiel erleichterte Zugänge zum Bürgergeld hinsichtlich der Wohnkosten und des anzurechnenden Vermögens. Da hat man im Prinzip an Maßnahmen angeknüpft, die schon während der Corona-Pandemie eingeführt wurden. Diese Änderungen könnten das Ausmaß der verdeckten Armut verringern. Davon sprechen wir, wenn Menschen ihren Anspruch auf Unterstützung nicht wahrnehmen, etwa weil sie Angst haben, aus ihrer Wohnung zu müssen. Das sehe ich durchaus positiv.

Auch die Vertrauenszeit und die damit verbundenen Lockerungen bei den Sanktionen sind gut. Aber ich verstehe nicht, warum man nach Ablauf der sechs Monate weiterhin bei jedem Regelverstoß sanktioniert werden kann. Gerade nach dieser Zeit hat sich ja vielleicht gezeigt, dass der Bewerbungsmarathon zu nichts führt. Und wenn Menschen dann frustriert sind und sich mal verweigern, finde ich es ziemlich hart, sie zu sanktionieren. Auch interessant: Neue Studie zur Hartz-IV-Sanktionen – Konsequenzen für das Bürgergeld?

Was positiv ist, ist die Erhöhung der Erwerbsanreize, also etwa der erhöhte Erwerbsfreibetrag. Und auch ein Weiterbildungsgeld soll es geben. Wichtig finde ich die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Es soll also nicht mehr darum gehen, die Menschen möglichst schnell in irgendeinen Job zu vermitteln. Stattdessen wird erstmal geschaut, wo die Potenziale der Arbeitslosen liegen.

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Also sind Sie zufrieden?
Becker: Das alles sind positive Ansatzpunkte. Trotzdem enthält der Gesetzentwurf meiner Meinung nach nicht das, was versprochen wurde. Ein Beispiel sind die Arbeitsmarktmaßnahmen. Da wird die Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan ersetzt. Das kann aber nur zu Verbesserungen führen, wenn die Jobcenter auch Möglichkeiten haben, mehr Personal für eine gute Beratung einzustellen. Dafür sind keine Mittel vorgesehen. Und was bleibt ist, dass es keine Verbesserung des Lebensstandards gibt, obwohl Herr Heil das vor nicht allzu langer Zeit mal angekündigt hatte.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sieht in dem neuen Bürgergeld eine „umfassende Sozialreform“.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sieht in dem neuen Bürgergeld eine „umfassende Sozialreform“. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Sie haben ja gerade schon über das Thema Sanktionen gesprochen. Halten Sie diese für sinnvoll oder sollten sie abgeschafft werden?
Becker: Ich halte Sanktionen nicht für sinnvoll, denn ich sehe da ein logisches Problem. Wenn wir ein absolutes Existenzminimum haben und jeder Mensch ein Recht darauf hat, dann kann ich dieses Minimum nicht mehr kürzen. Dieses Grundrecht ist ja nicht an bestimmte Verhaltensregeln gebunden.

Und warum sollte man die Situation von Millionen Menschen, die durchaus gerne arbeiten würden, daran ausrichten, dass es einige wenige mit besonderen Problemen gibt, die sich verweigern? Das machen wir bei anderen Gesetzen auch nicht. Wir richten das Einkommensteuergesetz nicht daran aus, dass es Leute gibt, die die Einkommensteuer systematisch hinterziehen. Da muss die Gesellschaft leider damit leben, dass es bestimmte Gruppen gibt, die die Gesetzeslage geschickt für sich ausnutzen.

Die Opposition fürchtet, nicht zu arbeiten würde durch das Bürgergeld attraktiver. Was sagen Sie dazu?

Becker: Das kann ich nicht nachvollziehen. Da hat sich eigentlich nichts geändert. Der Anreiz zur Erwerbsaufnahme ist sogar noch etwas erhöht worden, weil in bestimmten Bereichen mehr Einkommen nicht angerechnet wird. Derjenige, der arbeitet, hat immer mehr als derjenige, der nicht arbeitet.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Bürgergeld ein Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre…
Becker: Das sehe ich nicht so, wir haben ja weiterhin die Sanktionen. Da hat sich nur marginal etwas geändert. Die Menschen, die Bürgergeld erhalten, müssen diverse Pflichten erfüllen, sonst werden sie nach wie vor sanktioniert.

Und selbst wenn wir, wie ich es befürworten würde, auf Sanktionen ganz verzichten, hätten wir kein bedingungsloses Grundeinkommen. Denn es wird ja nicht automatisch an jeden und jede ausgezahlt. Allein die Beantragung ist eine Hürde, da muss schon mitgearbeitet werden. Deswegen ist es weit hergeholt, beim Bürgergeld von einem bedingungslosen Grundeinkommen zu sprechen.

Bedingungsloses Grundeinkommen erklärt

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    Gehen wir von den Bürgergeld-Plänen weg: Was wäre Ihr Idealvorschlag? Wie müsste man die Grundsicherung reformieren?
    Becker: Bei den Leistungen fordere ich schon seit vielen Jahren eine grundsätzliche Neuberechnung des Regelbedarfs nach einem ganz anderen Verfahren. Ich empfehle ein methodisch sauberes und stringentes Modell für die Berechnung, ohne dass danach etwas gestrichen oder gekürzt wird. Der Gesetzgeber sollte klar seine normativen Regeln vorgeben – dann wird ein sauberes Verfahren angewendet, um die Höhe der Grundsicherung zu ermitteln. Dann wäre die Basis für die Fortschreibung, auch für den Inflationsausgleich, eine ganz andere.

    Man sollte auch überlegen, ob man bestimmte Dinge, wie zum Beispiel die Kosten für Strom, aus dem Regelbedarf herausnimmt. Wir sehen ja, dass die Menschen da ganz unterschiedlich betroffen sind. Es gibt einfach bestimmte Ausgabenbereiche, die nicht pauschalierbar sind, weil es individuell zu große Unterschiede gibt. Die sollte man, genau wie die Kosten für die Unterkunft, außerhalb des Regelsatzes erstatten.

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    Dann würde ich mir eine schnellere Inflationsanpassung wünschen. Da sollte man die Möglichkeit schaffen, die Regelsätze auch innerhalb des Jahres anzupassen – etwa, wenn sich abzeichnet, dass die Preise sehr deutlich steigen. Denn Einmalzahlungen wie die Energiepreispauschale bleiben immer irgendwie unübersichtlich und es gibt Teilgruppen, die außen vor bleiben.

    So viel zu Ihren Wünschen für die Zukunft. Betrachten wir die Vergangenheit: Hartz IV wird wohl abgeschafft. Wie fällt ihr Fazit aus?
    Becker: Ich sehe nicht, dass Hartz IV abgeschafft wird. Es wird umbenannt. Ansonsten ist es eine Fortführung des Systems, das wir haben – mit moderaten Reformen. Teilweise sind die okay, in vielen Bereichen gehen sie aber nicht weit genug.

    Von der Grundsicherung abgesehen: Haben wir in Deutschland ein Armutsproblem?
    Becker: Wir haben auf jeden Fall ein Problem damit, wie wir mit Armut umgehen. Und wir haben das Problem, dass wir Armut haben. Wir beobachten schon seit den 1970er Jahren, dass sich die Armutsquote – also der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, an der Gesamtbevölkerung – erhöht. Das läuft nicht immer kontinuierlich und wird durch Phasen unterbrochen, in denen die Quote stagniert. Aber in der nächsten Krise steigt sie wieder.

    Das Problem ist, dass wir es in wirtschaftlich guten Jahren nicht schaffen, die Armutsquote zu senken. Aktuell liegt sie bei ungefähr 16 Prozent. Vor Corona hatten wir zum Beispiel eine gute wirtschaftliche Situation – trotzdem ist die Quote nicht gesunken. Darauf, dass sie nicht gestiegen ist, dürfen wir uns nicht ausruhen. Uns drohen im nächsten Jahr neue Probleme, eventuell mit einer rezessiven Entwicklung und mehr Arbeitslosigkeit. In solchen Zeiten steigt die Quote dann weiter.

    Sie rechnen also mit mehr Armut in Deutschland?
    Becker: Ich weiß natürlich nicht, wie sich die gesamte Situation entwickelt. Zum Beispiel, ob die Energiepreise weiter steigen. Offen ist auch, ob man im nächsten Jahr vom Mantra der Schuldenbremse und dem kategorischen Nein zu Steuererhöhungen Abstand nimmt und etwas mehr Umverteilung nach unten etabliert. Dann könnte man da vielleicht noch gegensteuern. Aber wenn man nichts tut, sehe ich diese Gefahr auf jeden Fall.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.