Seit Wochen demonstrieren Ägypter auf dem Tahrir-Platz. Es sind Alte und Junge, Muslime und Christen, sie alle eint Hoffnung - und Musik

Hamburg/Kairo. Der Tahrir-Platz in Kairo ist derzeit ein Ort der Gegensätze, ein Reibungspunkt der ägyptischen Revolution. Die Regimegegner, die sich im Herzen der Stadt gegen die Anhänger des Präsidenten Husni Mubarak und dessen Politik zur Wehr setzen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Junge, Alte, Muslime, Christen, Bauern, Arbeiter, Studenten, arbeitslose Jugendliche, Juristen, Ärzte, Geschäftsleute, Künstler. Was eint diese Menschen außer ihrer Wut? Was gibt dem Protest seine Wucht? Musik.

Inmitten des riesigen Kreisverkehrs bauen Aktivisten eine Soundanlage auf, stellen Boxen auf den Platz und spielen ein Lied, "Habibti Ya Masr". Den Song lernt am Nil jedes Kind. Tausende singen mit: "Oh meine Liebe, Ägypten, Ägypten". Sie tanzen, umarmen sich und schwenken ägyptische Fahnen. Die Verse erzählen von der Schönheit des Landes, von Freiheit, Hoffnung und von der Stärke, die sich in den Augen seiner Bewohner widerspiegelt. Aber auch von dem Bekenntnis, sein Leben für die Heimat zu geben.

Die inoffizielle Nationalhymne Ägyptens ist kulturelles Allgemeingut, das aber indirekt auch Mubaraks patriotische Linie förderte. Sie verbindet die Menschen bei seltenen Großereignissen wie Fußballspielen, etwa dem Africa-Cup. Dass die zersplitterte Protestbewegung sich dieses Lied nun zu eigen gemacht hat, zeigt, dass Mubarak nicht mehr derjenige ist, der den Ton angibt. Die Musik weht dem Herrscher entgegen. Als harter Wind. Und gleichzeitig verleiht sie dieser noch jungen ägyptischen Bewegung einen verbindenden Sound.

"Singen ist vor allem auch eine soziale Aktivität, die zurzeit, denke ich, sehr dringend benötigt wird", sagt Salam Yousry. Mitten auf dem Tahrir-Platz steht der junge Künstler, während er dem Abendblatt über sein Handy von der Stimmung vor Ort erzählt. Im Hintergrund: Ein Stimmengewirr auf Arabisch, Uhrzeiten werden gerufen, Verabredungen im Ausnahmezustand.

Yousry besuchte gerade ein Theater-Festival in London, als die Proteste begannen. Sofort flog er nach Kairo zurück und schloss sich den Kundgebungen auf der Straße an; doch er nahm nicht einfach nur teil. Er brachte seine Trommel mit und stimmte Lieder an. "Wir singen populäre Songs, aber auch eigene", sagt er, und noch immer ist es laut im Hintergrund.

Geboren ist Yousry in Algerien. Er hat an der Helwan-Universität in Kairo zunächst Malerei studiert, sich dann aber dem Theater zugewandt. Weil er hoffte, damit mehr zu provozieren. In seine kritischen Inszenierungen integriert er immer wieder Stücke des berühmten ägyptischen Sängers Scheich Imam. Bereits in den 60er- und 70er-Jahren halfen dessen kontroverse Lieder arabischen Studenten und Arbeitern, ihrem Unmut bei Streiks, Demonstrationen und Sit-ins Luft zu machen. "Die Wortwahl ist sehr kraftvoll und spricht jeden an", sagt Yousry über die Musik Imams, mit der er die Regierung bereits vor den aktuellen Unruhen öffentlich kritisierte. Imams satirisches "El Foul W'il Lahma" zum Beispiel handelt vom heuchlerischen Aufruf der Herrschenden an das ägyptische Volk, das Bohnen doch eh viel gesünder seien als Fleisch. Wer Fleisch esse, der werde ohnehin nur träge und verpasse seine Termine, heißt es in dem Lied.

Yousrys Theaterstücke haben bisher nur ein Stammpublikum aus dem intellektuellen Milieu erreicht, denn die kulturelle Szene der Millionen-Metropole ist übersichtlich. Für einen Künstler wie ihn sei es frustrierend, dass staatlich nicht konforme Kultur keine Chance hatte, größere gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Viele seiner kreativen Kollegen hätten Ägypten deshalb verlassen. "Es gibt eben leider diese Unterdrückung von oben und es ist schwer, für Kunst Aufmerksamkeit zu bekommen", sagt Yousry. Doch dass seine gestalterischen Ideen nur einem limitierten Zirkel vorbehalten sind, hat sich mit der aktuellen Situation geändert.

"Die Leute sind momentan 24 Stunden am Tag auf dem Tahrir-Platz. Sie brauchen Aufmunterung. Wir singen die ganze Zeit und performen für die Menschen", erzählt Yousry. "Nun weiß ich, wer oben und wer unten ist", lautet ein Vers, "nun weiß ich, wer richtig und wer falsch liegt."

Sein Engagement vor Ort hat Workshop-Charakter, er diskutiert und agiert mit den Männern und Frauen, Jungen und Alten, die politisch erwacht sind, aber noch keine Zukunftsperspektive sehen. "Wir versuchen, mitten im Aufstand eine gemeinsame Stimme zu finden, die über die Grenzen des Platzes hinausgeht", sagt Yousry über die "Thinktanks" auf dem Tahrir. Noch fehlt dem Chor eine Harmonie, die langfristig nachhallt. Noch sind es meist Slogans, die den Takt vorgeben. Knappe Forderungen wie "Mubarak, hau ab!" oder Rufe wie "Gamal, sag deinem Vater, wir mögen ihn nicht!". Sätze, die aus dem Bauch heraus entstehen. Aus der Unzufriedenheit. Die all den angestauten Zorn ablassen. Und ein gutes Ventil dafür war und ist der Hip-Hop.

"Wir geben nicht auf. Wir gehen nicht mehr zurück!", rappt ein junger Musiker namens Karim Abdelrahman. In einem Facebook-Video sind zu seinen dahinfließenden arabischen Reimen die Bilder der protestierenden Massen zu sehen. Finger, die Peace-Zeichen bilden. Wasserwerfer. Ein Mann, der sich einen Verband an den blutenden Kopf hält. Die Demonstranten tragen Atemmasken, die Worte, die sie trotzdem skandieren, schneidet Abdelrahman in seinen Song gegen "die korrupte Regierung" hinein: "Sie bauen um uns die Mauer immer höher. Wir kriegen keine Luft mehr", klagt der Rapper zu seinen impulsiven Beats und appelliert an seine Landsleute, sich nicht weiter in ihren Häusern zu verstecken.

Ob nun Hip-Hop, populäres Liedgut oder traditionelle Klänge: Künstler Yousry setzt auf die einende Kraft der Musik, so chaotisch die Lage derzeit auch scheinen mag. "Jeder kommt von einem anderen Weg und hat andere Gedanken, aber wir alle müssen zusammenhalten", sagt er. Und fügt abschließend hinzu: "Was ich die ganze Zeit im Kopf habe, ist die Hoffnung, dass die Situation gut ausgeht und Frieden wieder unsere Leben füllen wird." Mitarbeit: Verena Köplin