Moorburg ist umringt von Autobahn, Hafenterminal, Kraftwerk und bald einer Deponie. Trotzdem zieht es Künstler und Familien an die Süderelbe.

Moorburg. Möglicherweise zeigt sich hier oben ein Blick in die Zukunft Moorburgs. Zumindest in die Zukunft, wie sie viele dort unten in dem Dorf an der Süderelbe befürchten. Knapp 30 Meter hoch erhebt sich der gigantische Hügel aus Sand, der vor wenigen Jahren für das nahe Hafenterminal aus der Elbe gegraben wurde. Junge Birken, erstes zartes Gras wachsen nun dort. Der Blick fällt auf Containerstapel; daneben ragt die Baustelle des neuen Kraftwerks Moorburgs hoch auf. Wie eine Kathedrale des untergehenden Kohle-Zeitalters erscheint der mächtige Block mit seinen Baukränen, Kühltürmen und kuppelartigen Kohlelagern. Das Rauschen der nahen A 7 ist zu hören, gelegentlich das metallische Scheppern, wenn die Terminalkräne einen Container auf ein Seeschiff verladen. Im Westen sieht man eine breite Grünfläche - dort will Hamburg jetzt eine neue Hafenschlick-Deponie aufschütten.

Von Moorburg selbst ist von dort oben aus nichts mehr außer ein paar Bäume zu sehen, unter denen sich die alten Häuser verstecken. Das Dorf scheint verschwunden - so wie es nach alten Hafenentwicklungsplänen längst verschwunden sein sollte. Und so wie es in der Stadt wohl auch längst abgeschrieben ist. Hafen, Kraftwerk, neue Autobahnen und nun auch noch der Schlick: Moorburg, so scheint es, ist zum industriellen Abladeplatz der Stadt erkoren. Ein Platz für die Industrie, aber nicht mehr für die Menschen.

"Aber wir sind noch da und wollen es auch bleiben", sagt Manfred Brandt. Der vollbärtige Agrarwissenschaftler, 65, steht auf dem Hof seines Bauernhauses. 1902 wurde es gebaut, und man sieht, dass Moorburg einmal ein wohlhabendes Dorf gewesen ist.

Rosen ranken an der alten, stuckverzierten Fassade, die - wie an einigen der Moorburger Häuser - eher an Altona denn an ein Marschdorf erinnert. "Die Tongrube-Töpferwerkstatt" steht auf dem Schild eines früheren Stallgebäudes. Gegenüber sind Künstlerateliers in einen alten Schuppen gebaut. Statuen aus Holz und Metall scheinen aus dem Rasen zu wachsen. Längst ist der alte Hof zu einer Art Künstlerkolonie geworden. So wie das gesamte Dorf auch.

Gut zwei Dutzend Künstler verschiedener Richtungen haben sich hier in den vergangenen Jahren niedergelassen. Selbst der Wirt der einzigen Gaststätte in der Ortsmitte malt und hat das Backsteingebäude zu einer kleinen Kulturinsel ausgebaut. Statt Bier und Köm wie früher gibt es im "Wasserturm" Lesungen und eine veritable Weinauswahl. Demnächst wollen die Moorburger Künstler einen Tag der offenen Ateliers ausrichten.

Alte Bauernhöfe mit viel und günstigem Platz in relativer Stadtnähe sind wohl der Grund für diese Entwicklung, sagt die Bildhauerin Almut Heer, die schon vor vielen Jahren von der Uhlenhorst nach Moorburg gezogen ist: Ein ländlicher Rückzugsort am Stadtrand, den nicht nur immer mehr Künstler, sondern auch Familien entdeckt und hier günstig von der Saga ein Häuschen im Grünen gemietet haben. "Wir haben hier einen ziemlichen Austausch der Bevölkerung erlebt", sagt Brandt. Viele der 750 Moorburger seien eben erst in den vergangenen Jahren zugezogen, im Turnverein oder in der Kirchengemeinde treffen nun Alt- und Neubürger zusammen. "Unsere Vereine sind nicht totzukriegen", sagt Brandt.

Vor fast 30 Jahren sah das noch anders aus.1982 erklärte der Senat Moorburg zum Hafenerweiterungsgebiet. Eine Art Todesurteil für das Dorf, das eigentlich einer der ältesten Hamburger Stadtteile ist. Seit 1375 gehört Moorburg zu Hamburg, noch immer fühlen sich die Moorburger daher mehr mit Hamburg als mit dem Rest des Süderelbe-Gebiets verbunden - was die Wunden noch tiefer schlagen ließ.

Mit der Planung neuer Hafenbecken und Terminals schien das Ende des Wohndorfs aber besiegelt. Viele Bewohner zogen weg, verkauften die Häuser an die Saga. Und wer durch das lang gezogene Straßendorf fuhr, sah an vielen Gebäuden deutliche Zeichen von Verfall und Leerstand. Heute gehören rund 80 Prozent der 250 Häuser der Stadt, und noch immer stehen einige Häuser leer.

Lange schon kämpfen aber Initiativen gegen den Niedergang. Auch Brandt, in Hamburg bekannt als Mitbegründer der Mehr-Demokratie-Initiative, agiert bis heute gegen das geplante Ende von Moorburg. Schon früh kauften sich Gegner der Hafenplanung aus der linksalternativen Szene ein - und wurden so die ersten Neubürger. "Hände weg von Moorburg" heißt ein 30 Jahre alter Plakatslogan, der noch heute zu finden ist.

Mitte der 90er-Jahre keimte dann Hoffnung auf. Mit dem rot-grünen Senat gab es nun eine Art Entschädigungsgarantie für Bauinvestitionen bis 2035. Viele werteten dies als eine Bestandsgarantie auf lange Zeit. Und mit den Plänen für ein neues Hafenterminal auf Steinwerder erscheint Moorburg heute tatsächlich auf lange Sicht von der Last befreit, dass es eines Tages unter Sand begraben liegt wie das Nachbardorf Altenwerder. Die Saga restauriert seit einigen Jahren wieder Häuser und Neu- sowie Altmoorburger sehen wieder eine Zukunft in dem Ort. Sie sehen ein "Recht auf Dorf in der Stadt", wie es heute in Moorburg in Anlehnung an die Hamburger Gentrifizierungsdebatte und den Initiativenverbund "Recht auf Stadt" heißt.

"Es lohnt sich wieder, für das Dorf zu kämpfen", sagt Heike Herder. Die 49-jährige Uni-Mitarbeiterin steht kämpferisch auf der Treppe zu ihrem Haus, ein schmucker Altbau mit großem Garten. Nebenan hat ihr Mann, ein leidenschaftlicher Oldtimer-Bastler, die alte Dorfschmiede wieder restauriert. Nach hinten raus schaut die Familie auf weitläufige Wiesen. Platz für den neunjährigen Gian Luca und seinen drei Jahre älteren Bruder, die in Moorburg viele gleichaltrige Freunde gefunden haben. "Hier können sie richtig spielen ohne viel Verkehr, deshalb sind wir aus Rahlstedt nach Moorburg gezogen", sagt Heike Herder.

Solche Familien sind wichtig für die Zukunft Moorburgs, weiß Manfred Brandt. Doch die vielen geplanten Großprojekte ringsherum schrecken ab, glaubt er: Da sei das gigantische Kraftwerk von Vattenfall und die Diskussion um CO2 und Ruß. Dann kam die neue Trasse für die Hafenquerspange zwischen der A 1 und der A 7, die dicht am Ort vorbeischrammen soll. Und zuletzt nun der Hafenschlick, der zu einem gut 30 Meter hohen Hügel aufgespült wird - sollte die Planung der Hamburg Port Authority genehmigt werden. "Zu viel ist zu viel", sagt Brandt. Deshalb werde es wieder Proteste geben. Der Altmoorburger Manred Brandt gibt sich da genauso kämpferisch wie die Neubürgerin Heide Herder. "Verschwunden", sagt Brandt, "das sind wir noch lange nicht." Auch wenn es vom nahen Hügel aus schon ganz anderes aussieht.