Loki Schmidts Eltern waren bemüht, ihre Kinder den alltäglichen Kampf wider die materielle Not so wenig wie möglich spüren zu lassen.

Hamburg. Es war aufregend wie am Heiligen Abend. Hibbelig und mit geröteten Wangen warteten Hannelore, Christoph und Linde auf dem dunklen Flur, bis sie endlich die Tür zum Kinderschlafzimmer öffnen durften: Da saß doch tatsächlich ein Pfefferfresser, inmitten eines Urwalds. Ganz schön groß, bunt gefiedert, mit prächtigem Schnabel in Schwarz und Dunkelrot. Der Vater hatte den Tukan an die Wand gemalt, um den Kindern Farbe in die finstere Wohnung in Borgfelde zu zaubern.

Und auf jedem der drei Bettchen lag eine Banane. "Die hat euch der Pfefferfresser mitgebracht", sagte Hermann Glaser. Loki und ihre beiden jüngeren Geschwister glaubten das, ein bisschen zumindest. War ihr Vater, hauptberuflich Elektriker, doch vor dem Ersten Weltkrieg mit der Marine nach Westafrika gefahren und wusste wundersame Dinge zu erzählen. Von schillernden Märkten, geheimnisvollen Ritualen. Der Pfefferfresser - und dann noch für jeden eine Banane (ohne teilen zu müssen!), das vergaß Loki Schmidt ihr Leben lang nicht: "Es war wie Weihnachten, Ostern und Silvester auf einmal."

Auch andere Details aus der Dekade zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise blieben haften. Im Gespräch mit Reinhold Beckmann erinnerte sich Loki Schmidt noch im hohen Alter an jedes Detail der 28 Quadratmeter großen Wohnung in Borgfelde. An die winzigen Zimmer, das schwarz-grün gestreifte Sofa, das Bücherbord, wie alle Möbel selbst gezimmert. An die Nähmaschine am Fenster, eisernen Bollerofen. An die Kaffeemühle aus Steingut, das dunkle Plumpsklo draußen auf dem Flur, die Gasfunzel. Strom? Fehlanzeige. Sonnabends war Badetag: Nacheinander stiegen die drei Sprösslinge in den Zinkbottich. Was aus heutiger Sicht so bitter arm wirkt, war damals ganz normal in den Arbeitervierteln. Die Eltern waren bemüht, ihre Kinder den alltäglichen Kampf wider die materielle Not so wenig wie möglich spüren zu lassen. Notfalls musste übertüncht werden. Wie im Fall des Pfefferfressers ...

Geboren wurde Hannelore am 3. März 1919 in der Wohnung der Großeltern an der Schleusenstraße in Hammerbrook. Sie war typisch für Arbeiterfamilien vor einem Jahrhundert. Gründerzeithaus mit vier Stockwerken in hochwassergefährdetem Gebiet. Mit einer Kanone wurde vor der Flut gewarnt. An der Straße stand kein Baum; dafür herrschte reges Treiben mit Schwarzhändlern und fliegenden Hökern. Hartes Leben für die Erwachsenen, ein Traum für Kinder. Als auch die Schwestern der Mutter Gertrud heirateten, wurde die mit mehr als zwölf Personen belegte Sechszimmerwohnung selbst für bescheidenste Ansprüche zu eng.

Der Umzug Ende 1922 war ein Fortschritt. Zu Fuß, von Hammerbrook nach Borgfelde, die Habseligkeiten fanden komplett auf einer Schott'schen Karre Platz, eine hölzerne Pattform mit vier Rädern und Deichsel. Die dreijährige Loki marschierte nebenher. Und hoch oben auf dem Gepäck thronte Bruder Christoph - mit einer Laterne in der Hand. Als Warnung für andere Gefährte auf den in der Regel unbeleuchteten Straßen. Die neue, ob ihrer kargen Ausstattung vom Wohnungsamt nicht vermittelbare Wohnung kostete 27 Mark im Monat, etwa ein Viertel des Monatsgehalts des Vaters Hermann. Die Glasers hatten nicht das Glück, in eine der modernen Wohnungen in den Fritz-Schumacher-Bauten ziehen zu können, wie sie etwa in Dulsberg, der Jarrestadt, auf der Veddel und in Langenhorn jetzt gebaut wurden. Mutter Gertrud, eine gelernte Schneiderin, verdiente ein paar Groschen hinzu. 1923 kam es zur Hyperinflation: Im Oktober kostete ein Pfund Brot in Hamburg 800 Millionen, die gleiche Menge Butter 20 Milliarden Mark.

Trotzdem schaffte es die Familie irgendwie, wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Es gab einfaches, aber genug Essen. Gertrud machte aus der Not eine Tugend, besuchte in der Volkshochschule Kurse über Ernährungslehre, setzte gezielt auf Gemüse und Milchprodukte. Fleisch kam, wenn überhaupt, nur einmal in der Woche auf den Tisch. Doch wenn die Glaser-Kinder Geburtstag hatten, wurden Wünsche erfüllt. "Mein Lieblingsessen, das höchste der Gefühle, waren Schneidebohnen in einer leichten Milchsoße mit viel Petersilie und ein kleines Stück Beefsteak", schrieb Hannelore Schmidt in ihrem 2008 erschienenen Buch "Erzähl doch mal von früher".

Umso erstaunlicher, dass der Existenzkampf Geld und Zeit für kulturelle Aktivitäten ließ. Zwei- bis dreimal in der Woche lernten die Eltern in der Volkshochschule. Themen waren Frühgeschichte, Architektur, französischer Im- und deutscher Expressionismus. Wie viele Arbeiter legten die Glasers allergrößten Wert auf die Bildung ihrer Kinder, um ihnen später ein besseres Leben zu ermöglichen. In Hamburg wurde das durch den sozialdemokratischen Senat stark gefördert. Dass Kultur zum Leben gehört, hatte Hannelore schon von ihrer Großmutter erfahren. Die gelernte Köchin verstand es, Goethes "Faust" auswendig zu rezitieren. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Kontorboten, hatte sie es geschafft, allen vier Töchtern zu einer anständigen Ausbildung zu verhelfen.

Diese Saat trug Früchte. Mit Freuden und Freunden wurde in der winzigen Glaser-Wohnung musiziert. Der Vater malte und spielte Geige. Loki folgte seinem Beispiel. "Ihr seid die am besten gebildete Proletarierfamilie, die ich kenne", stellte ein Freund später fest. 1925 kam Loki in die Schule Burgstraße 35. Das groß gewachsene Mädchen verstand sich mit den Jungs besonders gut. Mit einem ganz besonders, dem körperlich eher kleinen Helmut. Doch das geschah erst später, auf der Lichtwarkschule in Winterhude. Dorthin wechselte Hannelore 1929, im Alter von zehn Jahren. Zuvor hatten sich die Eltern ausführlich mit verschiedenen pädagogischen Modellen beschäftigt und die Reformschule gewählt.

Als der Vater 1931 arbeitslos wurde, baute er an der Seite anderer, ebenfalls arbeitloser Eltern eine Bühne in die Schulaula. Kultur und schöne Künste sollten nicht unter der Weltwirtschaftskrise leiden. 1932 hatten 165.000 Menschen in Hamburg keinen Job. Bei 1,14 Millionen Einwohnern entsprach dies rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Loki beobachtete manchmal heimlich ihre Mutter, wie diese spät abends weinend am Küchentisch saß.

Nicht ein Pfennig war in der Familienkasse. Probleme und Nöte türmten sich. Zumal die sechsköpfige Familie nach der Geburt Roses 1929 in eine Neubausiedlung nach Horn gezogen war und 77 Mark Miete zahlen musste. Vater Hermann übernahm alle möglichen Nebenjobs, Mutter Gertrud nähte. "Vom Chaos spürten wir Kinder nicht allzu viel", erinnerte sich Loki. "Armut war normal." Not lässt sch leichter ertragen, wenn es - wie damals in Hamburg - den meisten so geht.

In den Sommerferien fuhr die Familie mit Tanten, Cousins und Cousinen auf das Parzellengrundstück der Großeltern bei Neugraben. Hermann Glaser errichtete auf dem Grundstück in der Fischbeker Heide eine kleine Bretterbude - ohne Strom, Wasser und Toilette.

Dennoch berichtete Loki Freunden später von herrlichen Zeiten in der Natur: gelbe Lupinienfelder, Buchweizen, Knöteriche, Birken und Kiefern so weit das Auge reichte. An einem Wasserloch hinter einer Kiesgrube trieb Hannelore ihre ersten botanischen Studien. Beseelt von 15 Bänden "Flora in Deutschland", von den Eltern für wenig Geld in einem Antiquariat erstanden. Diese Buchreihe hielt Loki Schmidt heilig - bis zu ihrem Tod.

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