Jung, engagiert, gebildet, gläubig - der anatolische Hanseat Akif Sahin gibt im Abendblatt-Interview Einblicke in die Hamburger Islamistenszene.

Hamburg. Alle reden über Muslime. Wer wissen will, worüber die Muslime reden, sollte auf den Blog von Akif Sahin schauen. Der Student kennt sich aus: In seiner Religion, im Netz und in seinem Viertel. Die Jugendlichen in Wilhelmsburg kennen den 28-Jährigen, dort engagiert er sich in der islamischen Jugendarbeit. Spätestens seit Juni 2010 hat er sich bundesweit einen Namen gemacht. Er gründete die Seite islam-blogger.de. Sie soll eine Plattform für möglichst vielfältige muslimische Meinungen sein. Zehn Monate später hat der Blog bis zu 15 000 Besucher täglich. Sahin, der sich als "türkischer Hamburger" bezeichnet, studiert Sozioökonomie, ist Mitglied im Verband muslimischer Studenten und bei Milli Görüs - ein Verband, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Sahin selbst steht nach Aussagen des Verfassungsschutzes nicht unter Extremismus-Verdacht.

Hamburger Abendblatt: Über Ihrem Blog steht: "Unabhängig und Fair". Sind sonst nicht eher radikale Strömungen im Internet erfolgreich?
Akif Sahin: Nicht nur, aber auch. Bei uns haben Radikale nichts zu melden. Auch wenn wir manchmal derbe Meinungen vertreten, unsere Grenze ist das Grundgesetz. Islamhasser kommen ebenso wenig zu Wort wie Holocaustleugner. Aber ja: Ausgerechnet die altmodischen Salafisten, die so traditionell leben wollen wie Prophet Mohammed vor Hunderten von Jahren, sind hip. Das liegt an ihren charismatischen Missionaren: Pierre Vogel zum Beispiel, ein Popstar der deutschsprachigen Islamistenszene.

Hat Vogel auch in Hamburg Anhänger?
Sahin: Anhänger weniger, aber die Videos des konvertierten Kölners sind beliebt, einfach weil sie so skurril sind. Zum Beispiel empfahl er Angela Merkel, sie solle "die Sharia einführen", um der Kriminalität Herr zu werden. Aber nur ein Zehntel der Leute besucht auch seine Homepage. Darunter war aber auch Arid U., der im März amerikanische Soldaten am Frankfurter Flughafen tötete.

Könnte es ein Attentat wie das von Arid U. auch in Hamburg geben?
Sahin: Was Arid U. gemacht hat, war ein Amoklauf. Das kann immer und überall passieren. Aber Arid U. ging nie zur Moschee, war in keiner Gemeinde. Wer in Hamburg zur Moschee geht, den kennt man. Die Moscheen haben längst eigene Strategien gegen Radikale entwickelt und werden rund um die Uhr vom Verfassungsschutz kontrolliert. Jeder dort weiß, dass die Leute vom Landeskriminalamt überall sind, auch wenn sie es nicht zugeben.

Wo werden Jugendliche wie Arid U. dann radikalisiert?
Sahin: Er hat sich komplett übers Internet radikalisiert. Das ist typisch, die Gefahr hat sich dorthin verlagert. Im Netz fühlen sich die Fundamentalisten noch sicher. Die Anonymität bietet einen rechtsfreien Raum, wo sie noch ungestraft ihre Meinung verbreiten können.

Wie kann ein normaler Moslem Islamist werden?
Sahin: Das Problem ist nicht, dass Arid U. Moslem war, sondern dass es einem wahnsinnigen Amokläufer gelang, durch alle Sicherheitsschranken zu schlüpfen. Jeder kann Videos im Internet konsumieren und auf der Straße durchdrehen. Wenn man das Internet nicht überwachen kann, muss man dafür sorgen, dass nicht jeder an eine Waffe kommt. Die Sicherheitsbehörden sollten den Zugang zu Waffen und die Kommunikation im Internet überwachen, nicht die Moscheen.

Gibt es in Hamburg noch Hassprediger?
Sahin: Nicht mehr. Was gepredigt wird, wird sowohl von der Gemeinde als auch von der Polizei überwacht. Dass Jugendliche hier in einer Moschee radikalisiert werden, halte ich für unmöglich. Im Gegenteil: Die Moscheen beugen dem Fundamentalismus vor. Sie sind nicht das Problem, sondern ein großer Teil der Lösung. Mit Radikalen will dort keiner etwas zu tun haben, zu schnell gerät man auch unter den Verdacht des Verfassungsschutzes. Durch die ständige Überwachung sind die Leute übervorsichtig geworden.

Was ist für Sie ein Islamist?
Sahin: Das erkennt man erst in Einzelgesprächen. Wenn einer in allen Details genauso leben will wie zu Zeiten des Propheten. Wenn er den Koran wortwörtlich nimmt und nicht in einen geschichtlichen Kontext setzt. Wenn er die Scharia nicht nur befolgt, sondern auf alle anwenden will. Fundamentalisten wollen einen Gottesstaat, in dem der Islam über allem steht.

Wo gibt es noch radikale Tendenzen?
Sahin: Nicht in den Moscheen, aber in den Hinterhöfen gibt es noch eine starke salafistische, also fundamentalistische Bewegung in der Stadt. Eine solche Organisation, die Hizb ut-Tahrir, wurde zwar vor Jahren verboten, aber das hat die Anhänger ja nicht in Luft aufgelöst.

Laut jüngstem Verfassungsschutzbericht ist Hizb ut-Tahrir auffällig an Schulen aktiv, um Anhänger zu werben.
Sahin: Nicht nur an Schulen, auch an den Universitäten. Sie laden zum Unterricht, in Wohnungen oder Moscheen, wo dann das Kalifat, der islamische Gottesstaat, behandelt wird. Sie unternehmen viel zusammen, machen hippe Sachen, das ist eine langsame Indoktrination, ähnlich den Scientologen. Das sind keine Männer mit langen Bärten, sondern junge mit Ausstrahlung, die rhetorisch was draufhaben.

Worüber wird normalerweise in Hamburger Moscheen gesprochen?
Sahin: In guten Predigten werden aktuelle Themen verhandelt. Der Imam kennt sich idealerweise aus und nimmt Bezug auf die Ereignisse in der Stadt. Zum Weltfrauentag ging es in vielen Moscheen darum, wie die Situation der Frauen in der Gesellschaft verbessert werden kann. Als ein Mädchen in einer Gemeinde von zu Hause weglief, wurde das angesprochen: Wie geht man mit seinen Kindern um, ihren Problemen?

Geht es auch um deutsche Politik?
Sahin: Darauf wird leider wenig Bezug genommen. Die Imame kennen sich da nicht aus, weil sie nicht aus Deutschland stammen. Sie werden oft als Beamte aus der Türkei geschickt, was den Zugang zu der Lebenswelt hiesiger Jugendlicher erschwert. Arabische Imame gehen zur Ausbildung meist nach Kairo. Einige gehen auch nach Saudi-Arabien, von wo sie dann den strengeren wahabitischen Islam mitbringen.

Gibt es in Hamburg Imame, die auf Deutsch predigen?
Sahin: Vielleicht drei oder vier. Aber nicht alle sind ordentlich ausgebildet. Das ist ein anspruchsvoller 24-Stunden-Job. Eigentlich sollten sie islamische Theologie studiert haben, den Koran auswendig können, sich in der Rechtsprechung auskennen, ihre Gemeinde seelsorgerisch beraten. Doch so eine Ausbildung gibt es bisher nicht auf Deutsch. Solange die Imame im Ausland ausgebildet werden, besteht auch die Gefahr, sich radikalisierte Hassprediger ins Land zu holen.

Sind Sie selbst politisch aktiv?
Sahin: Ich beschäftige mich auf meinem Blog mit Landespolitik, verfolge die Wahlen und habe politische Wünsche, etwa eine Islambeauftragte. Ich gehe aber selbst nicht in die Politik, weil ich keinen deutschen Pass habe. Ich will auch keinen, denn ich würde doch immer der Türke bleiben. Diesen Identitätszusatz kann ich in Deutschland sowieso nie ablegen, das versuche ich gar nicht erst. Ich bin Türke genauso wie Hamburger und fühle mich hier, in der schönsten Stadt der Welt, sehr wohl. Hamburg ist warmherzig, offen und tolerant, hier möchte ich leben, sterben und möglichst auch begraben werden.

Trotzdem sagen Sie, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört.
Sahin: Als Innenminister Hans-Peter Friedrich sagte, der Islam sei kein Teil Deutschlands, hat das viele meiner Freunde getroffen. Sie waren enttäuscht, haben viel diskutiert, gesagt: Siehst du, der will uns nicht, wie sollen wir mit dem einen Dialog führen? Ich versuche locker zu bleiben: Friedrich hat eine Meinung, die muss man respektieren. Zumindest ist er kein Heuchler, das rechne ich ihm hoch an.

Heißt das, er hat recht?
Sahin: Man sollte die Zugehörigkeiten einfach weglassen und fragen, was Deutschland ausmacht: die Menschen! Und zu denen gehören die Muslime, die hier leben und sich wohlfühlen. Die Unterscheidung Friedrichs, dass nicht der Islam, aber die Muslime zu Deutschland gehören, schließt daher niemanden aus. Aber mit dieser Meinung stehe ich ziemlich alleine da.

Was sollte sich für Muslime ändern?
Sahin: Wir können in Hamburg unseren Glauben frei ausleben, es gibt aber Privilegien, die der Islam im Gegensatz zu den christlichen Kirchen nicht hat, etwa islamische Kindertagesstätten. Die Kirche kann als Körperschaft des öffentlichen Rechts Steuern einziehen, Theologen ausbilden und Religionsunterricht erteilen. Diesen Status hat der Islam nicht. Das liegt aber auch an den strukturellen Problemen der Verbände, die in vielem uneins sind.

Was kann die deutsche Gesellschaft zur Integration beitragen?
Sahin: Die Deutschen sollten mehr mit den Muslimen sprechen statt über sie. Dort, wo sich die Muslime akzeptiert fühlen, sind sie auch engagiert. Die meisten von denen, die sich nicht integrieren wollen, sagen das nur aus Trotz, weil sie sich abgelehnt fühlen. Wenn das Wir-Gefühl in Deutschland stärker wäre, hätten auch Fundamentalisten keinen Nährboden.