Dem Mädchen, das im Januar in einem Koffer am CCH ausgesetzt wurde, geht es prächtig. Mit ihren Pflegeeltern wird Marie Heiligabend feiern.

Hamburg. Das Mädchen ist jetzt fast ein Jahr alt. Es entdeckt krabbelnd seine Welt, und die gefällt ihm. Denn es lacht gerne und viel. Etwa wenn die Eltern die Kleine morgens aus ihrem Bettchen heben und ihr einen Guten-Morgen-Kuss geben. Und, natürlich, ist dieses Weihnachtsfest für das Paar ein ganz besonderes. Auf den Moment, wenn das Mädchen Heiligabend zum ersten Mal die brennenden Lichter am Tannenbau sieht, freuen sie sich schon lange. Auf seine großen Augen, wenn sie die Geschenke auspacken.

Solche Szenen werden sich heute bei Tausenden Hamburger Familien in den Wohnzimmern abspielen. Dass die kleine Marie aber Weinachten in einem liebevollen Zuhause feiern wird, daran war kurz nach ihrer Geburt noch nicht zu denken.

+++Findelkind Marie - "Sie braucht Liebe und Wärme"+++

+++Fall Marie immer myteriöser+++

Marie ist das Mädchen, dessen Geschichte in einem Koffer begann. Am 4. Januar war das damals einen Tag alte Baby bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einem Koffer vor einem Hintereingang des Congress Centers Hamburg (CCH) ausgesetzt worden. Ein Passant hatte einen Mitarbeiter des CCH auf das herrenlose Gepäckstück aufmerksam gemacht. Als dieser aus dem Koffer ein leises Wimmern hörte, fand er das Neugeborene. Wäre Marie der eisigen Kälte länger ausgesetzt gewesen, hätte sie vermutlich nicht überlebt. Im Altonaer Kinderkrankenhaus wurde das damals 2200 Gramm leichte und 45 Zentimeter kleine Findelbaby rund um die Uhr betreut. Eine Schwester gab ihr den Namen Marie. Den leiblichen Eltern, von denen bis heute jede Spur fehlt, wurde das Sorgerecht entzogen. Jugendamtsmitarbeiterin Marion Schaffeld übernahm die Vormundschaft. Seitdem betreut sie das Mädchen und seine neue Familie.

+++Und was wurde aus...?+++

"Marie hat sich prächtig entwickelt, es geht ihr blendend", sagt Marion Schaffeld, die beim Jugendamt des Bezirks Mitte arbeitet. "An der Hand von Mama und Papa macht sie bereits die ersten Gehversuche." Sie schläft und isst gut, hat die ersten Zähnchen bekommen und brabbelt munter vor sich hin. Den Moment, als Marie vor Kurzem das erste Mal Mama und Papa gesagt hat, wird das Paar wohl nie vergessen. "Es ist wundervoll zu sehen, wie Marie in der Familie angekommen ist. Sie hat zu beiden Elternteilen eine gleichermaßen intensive Beziehung." Ein Leben ohne die Kleine kann sich das Paar längst nicht mehr vorstellen.

Marie sei ein ausgesprochen fröhliches und ausgeglichenes Kind, sagt ihr Vormund. Sie ist sehr agil, öffnet neugierig Schubladen und zieht sich an Möbelstücken hoch. Erst wenn die Kräfte in ihren Beinchen schwinden, lässt sie sich wieder auf den Po plumpsen und quietscht dabei vor Vergnügen. "Sie hat Spaß daran, mit der Sprache zu experimentieren." Wenn Schaffeld, die über 30 Jahre Berufserfahrung als Vormund hat, über die Kleine spricht, beschreibt sie ein ganz normales gesundes Baby. Dass sich Marie so positiv entwickelt hat, ist nicht selbstverständlich. Da das Mädchen einen sehr schwierigen Start ins Leben hatte, hätte es durchaus passieren können, dass es unter traumatischen Störungen leidet oder Schwierigkeiten hat, Bindungen aufzubauen.

Als die Nachricht vom sogenannten Kofferbaby Hamburg und ganz Deutschland rührte, hatte das Jugendamt schon nach wenigen Tagen eine Familie für das Mädchen gefunden. Gleich mehrere Paare wollten das Neugeborene adoptieren - die Warteliste mit Pärchen, die am liebsten ein Baby bei sich aufnehmen möchten, ist lang.

Seit fast einem Jahr lebt Marie bei ihren Pflegeeltern irgendwo im Großraum Hamburg. Wo genau ihr Zuhause ist, welchen neuen Namen ihr die Eltern gegeben haben und wer die Frau und der Mann sind, die das Findelkind aufgenommen haben, ist nur sehr wenigen Menschen bekannt. "Die Familie hat den Wunsch und das Recht, wie eine ganz normale Familie zu leben", sagt Schaffeld. Bekannte, Nachbarn, spätere Freunde sollen nicht wissen, dass Marie "das Kofferbaby" ist. Sonst könnte das Mädchen später schrecklichen Situationen ausgesetzt sein. Es könnte im Kindergarten etwa Sätze wie "Wir spielen nicht mit dir, weil du das Kofferbaby bist" zu hören bekommen. "Wann der richtige Moment ist, Marie ihre Geschichte zu erzählen, sollten die Pflegeeltern entscheiden", sagt die 57-Jährige.

Wer Marie damals ausgesetzt und ihren Tod in Kauf genommen hat, ist nach wie vor unklar. Der einzige Anhaltspunkt, den die Polizei bisher je hatte, war der Mann auf den Bildern einer Überwachungskamera am Bahnhof Dammtor, der einen Koffer der Marke Omica trug - Marie wurde in einem Koffer derselben Marke entdeckt. Nach knapp zwei Monaten war der Mann zwar identifiziert, aber mit der Aussetzung des Säuglings hat er nachweislich nichts zu tun gehabt. "Neue Ermittlungsansätze gibt es nicht. Sollte es neue Hinweise oder Erkenntnisse geben, wird die Akte wieder aufgemacht", sagt Polizeisprecher Holger Vehren.

Sollte die leibliche Mutter des Kindes doch noch auftauchen, wäre es laut Jugendamt fast ausgeschlossen, dass sie ihre Tochter zurückbekommt. Für Marie sind die Pflegeeltern die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Die Menschen, denen sie vertraut. Noch Ende dieses Jahres hat das Paar einen Antrag auf Adoption gestellt. "Jetzt wird das Familiengericht den Antrag prüfen", sagt Schaffeld. "Ich gehe davon aus, dass das Verfahren im Sommer 2012 abgeschlossen sein wird."

Die zweifache Mutter ist froh, dass das Jugendamt der Kleinen eine Perspektive geben konnte. Fast jeden Tag ist sie mit Familien konfrontiert, in denen Gewalt statt Liebe herrscht. Bei Marie konnte sie dazu beitragen, dass das Mädchen einen zweiten Start ins Leben erhält. Bis zur Adoption wird sie die Familie begleiten. "Dann werde ich mich mit einem weinenden und einem lachenden Auge verabschieden", sagt Marion Schaffeld. Die positive Entwicklung des Mädchens werde sie leider nicht mehr mitverfolgen können. "Aber ich weiß, dass Marie dort all die Geborgenheit und Liebe bekommt, die sie braucht."