Dem kleinen Findelbaby geht es erstaunlich gut. In einigen Tagen könnte sie in eine Pflegefamilie kommen. Fahndung nach der Mutter läuft.

Hamburg. Es ist wie ein Wunder, dass die kleine Marie noch lebt. "Der Säugling hätte vermutlich nicht länger als eine Stunde in der Kälte überlebt, maximal wenige Stunden", sagt Dr. Axel von der Wense, Leiter der Abteilung für Neugeborene im Altonaer Kinderkrankenhaus. "Bei diesen niedrigen Außentemperaturen ist die Auskühlungsgefahr für Marie extrem groß gewesen", sagt der behandelnde Arzt. Die Körpertemperatur falle alle 20 Minuten um etwa ein Grad Celsius.

Neben der eisigen Kälte musste das Findelbaby zudem mit der schlechten Luftzufuhr in dem geschlossenen Koffer zurechtkommen. "Sehr viel sicherer wäre es natürlich gewesen, wenn die Mutter das Kind in eine der drei Hamburger Babyklappen gelegt hätte", sagt von der Wense. Dort hätte das Neugeborene sofort versorgt werden können. "So war die Situation für Marie lebensgefährlich." Der Mediziner sagt: "Es ist ein Segen, dass sie so schnell gefunden worden ist."

Am Dienstagabend war das etwa einen Tag alte Neugeborene in einem schwarzen Koffer vor dem Lieferanteneingang des CCH an der Tiergartenstraße gefunden worden. Nur weil der Pförtner auf das Gepäckstück aufmerksam gemacht worden war, entging das kleine Mädchen dem Tod. "Ich habe gezittert und geweint, als ich das Baby in dem Koffer gesehen habe", sagt der Pförtner Habib Naji, der selbst drei Kinder und drei Enkel hat. "Für mich wäre es ein Drama gewesen, wenn der Koffer später entdeckt worden und das Kind tot gewesen wäre." Die ganze Nacht habe er nicht schlafen können. "Ich habe nur an das Baby gedacht und gehofft, dass es ihm gut geht." Deshalb suchte Habib Naji gestern als Erstes das Kinderkrankenhaus auf, um sich zu erkundigen, wie es dem Mädchen geht.

"Als das Baby bei uns eingeliefert wurde, hatte es eine Körpertemperatur von 36,6 Grad", sagt Axel von der Wense. Das sei gerade noch im normalen Bereich. "Insgesamt war Marie erfreulicherweise in einem guten Zustand", sagt der 50-jährige Mediziner. Mit einem Gewicht von 2200 Gramm sei das 45 Zentimeter kleine Kind zwar etwas untergewichtig. "Aber ansonsten geht es ihr gut. Alle Laborwerte sind bisher in Ordnung gewesen." Dass die Mutter ihr Kind in einer Klinik entbunden hat, schließt der Arzt aus. "Der Nabel ist gut abgebunden, aber nicht professionell - eher mit einer Art Bindfaden."

Noch viel wichtiger als die medizinische Versorgung ist momentan jedoch, dass Marie viel Zuwendung erfährt. "Das ist fast die Hauptmaßnahme", sagt Axel von der Wense. "Marie hat zwei Schwestern als Bezugspersonen." Die Schwester, die das Baby am Dienstagabend aufgenommen hat, habe dem Mädchen den Namen Marie gegeben. "Marie wird mit besonderer Liebe und Zuwendung betreut", sagt der Arzt. Statt von der eigenen Mutter wird die Kleine von Schwester Uta und ihrer Kollegin auf den Arm genommen. Sie reden mit ihr, streicheln ihr sanft über das dunkelblonde Köpfchen, wiegen sie im Arm, wickeln und füttern das Mädchen. "Sie trinkt sechs bis acht Fläschchen am Tag", sagt von der Wense. "Für die kurze Zeit, die Marie bei uns ist, ist sie Teil unserer Krankenhausfamilie."

Nach dem schwierigen Start ins Leben wird das Findelbaby sehr wahrscheinlich schon in wenigen Tagen ein richtiges Zuhause bekommen. "Wir müssen Marie noch zwei bis drei Tage überwachen", sagt Dr. Axel von der Wense. "Wegen des Untergewichts und um sicherzugehen, dass Maries Temperatur stabil ist." Aber dann spreche nichts dagegen, dass Marie in eine Pflegefamilie komme. "Ich hoffe, dass die Behörden schnell Eltern für das kleine Mädchen finden."

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Das zuständige Jugendamt des Bezirksamts Hamburg-Mitte hat gestern Kontakt zum Familiengericht aufgenommen, um eine Vormundschaft einzurichten. "Das fällt in unsere Zuständigkeit, da Marie im Bezirk Mitte gefunden worden ist", sagt Amtsleiter Markus Schreiber (SPD). Da man noch nicht wisse, wer die Mutter ist, sei der Fundort ausschlaggebend. Als Vormund werde sich das Jugendamt dann um die Unterbringung des Kindes und seine weitere Perspektive kümmern. "Dabei wird auch die Mutter von Marie nicht vergessen", sagt Bezirkschef Markus Schreiber. Denn sollte die Frau aus einer Notlage heraus gehandelt haben, so werde die Jugendhilfe Möglichkeiten prüfen, ihr Hilfe anzubieten. Das Ziel sei es dabei, dass die Mutter irgendwann einmal für ihr Kind sorgen könnte.

Sollte sich die Mutter tatsächlich bei den Behörden melden und ihr Baby zurückhaben wollen, so wäre ein langwieriges Verfahren nötig. "Es würde geprüft werden, inwieweit die Mutter geeignet ist, das Kind zu sich zu nehmen und zu betreuen", erläutert Holger Requardt, Leiter des Jugendamts des Bezirksamts Eimsbüttel, die Vorgehensweise in solchen Fällen. "Dieses Verfahren kann sechs Monate und länger dauern. Entscheiden würde letztlich das Familiengericht, das die Vormundschaft wieder der Mutter übertragen könnte."

Holger Requardt ist zuversichtlich, dass das zuständige Jugendamt schnell Eltern für Marie findet. "Die Chancen stehen gut, dass sie schon in wenigen Tagen in eine Adoptivpflegefamilie kommt." Also zu einem Paar, das auch die Option erhält, das Mädchen später zu adoptieren. Sollte sich die leibliche Mutter von Marie melden, werde in solchen Fällen selbstverständlich der Kontakt zwischen Mutter und Kind hergestellt. "Das ist auch für später wichtig, falls das Baby doch zurück zur Mutter kommt."

Bedenken, dass sich Findelkinder aufgrund ihres dramatischen Starts ins Leben nicht normal entwickeln könnten, seien unbegründet. "Wichtig ist, dass die Pflegeeltern offen damit umgehen", sagt der Jugendamtsleiter. "Traumatisch kann es für den Betroffenen werden, wenn er im Erwachsenenalter durch Zufall davon erfährt." Für Marie wäre es von großem Vorteil, wenn sie bald ein richtiges Zuhause fände. "Es ist wichtig, dass das Kind feste Bezugspersonen hat, damit das Urvertrauen gestärkt wird", sagt Holger Requardt. "Die Kleine hat schon viel durchmachen müssen. Jetzt braucht sie Menschen, die ihr viel Liebe schenken."