Nur Ungewissheit: Tage, in denen ein Salatkopf in einem Supermarkt wie etwas Verbotenes wirkt und ständiger Begleiter die Unsicherheit ist.

Hamburg. Mini Romana, zwei Salatköpfe zu 0,79 Cent, verpackt in einem Klarsichtbeutel und mit der Aufschrift "Unsere Heimat echt&gut" versehen: Vor drei Wochen hätte Bettina Wolf so eine Packung ohne Zögern in ihren Einkaufswagen gelegt. So wie Gurken und Tomaten auch. Vor allem Tomaten. "Rote Lippen und rote Tomaten, das gehört einfach zu mir", sagt die frühere PR-Fachfrau aus Winterhude. Grau melierte Haare, dunkle Brille, eine Frau, die nicht aussieht, als würde sie sonst lange zögern. Doch jetzt steht sie im Edeka-Markt an der Hoheluftchaussee und überlegt, dreht die Salatpackung in der Hand, liest das Etikett durch, als sei es eine Gebrauchsanleitung. Dann legt sie den Salat in den Einkaufswagen. Grün schimmert er dort zwischen Kartoffeln und einer Marzipanschachtel. Giftig grün, könnte man jetzt nach Wochen der EHEC-Krisen-Berichterstattung denken. Verstohlen schauen andere Kunden hinein - so als würde dort etwas Verbotenes durch den Markt geschoben werden, als würde sie öffentlich mit Cannabis hantieren. "Ich habe jetzt lange genug verzichtet, ich brauche das jetzt", sagt sie und lacht dann. "Wenn's mich erwischt, dann erwischt es mich eben."

Die Internetgemeinde diskutiert Verschwörungstheorien

Es ist der 20. Tag, nachdem die Epidemie mit dem gefährlichen Erreger öffentlich wurde. Die ersten Krankheitsfälle gab es bereits Anfang Mai, inzwischen sind bis gestern 26 Menschen an den Folgen der Darmkrankheit gestorben. Schwerpunkt der seuchenartigen Ausbreitung ist noch immer Norddeutschland mit Hamburg. Gurken, Tomaten, Salat, Sprossen - vieles wurde als Quelle verdächtigt, nichts Konkretes fanden die Forscher. Möglicherweise sind es nun doch Gurken aus Magdeburg. Immer neue Nachrichten prasseln herein. Und das verunsichert die Verbraucher zusehends und die Internetgemeinde diskutiert wilde Theorien: Ein Anschlag am Ende? Biogasanlagen strömen es aus, doch ein völlig anderes Bakterium? Nichts weiß man. Man weiß nur, dass Hamburg, die eigene Stadt, eine Art Epizentrum dieses EHEC-Desasters ist. Fernsehleute aus Spanien, England und den USA sind daher in der Stadt unterwegs. Gemüsebauern in den Vier- und Marschlanden werden rudelartig von den Teams besucht.

Termine im Rathaus bekommen eine noch nicht gekannte Internationalität. Skurril war es am Dienstag, als sich die vielen Kameras während der routinemäßigen Landespressekonferenz auf das Rednerpult richteten und dort zunächst von seltenen Kammmolchen und Uferschnepfen in Allermöhe gesprochen wurde, bevor Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks verkünden musste, dass eine heiße Spur zum Erreger sich bei der Laboranalyse als Fehlschlag erwiesen hat. Wieder einmal.

Überall kann der Erreger nun lauern, so scheint es. Aber auch an dieser Gemüsetheke im Supermarkt? Rote Paprika liegen dort, Zwiebeln, kleine rote Tomaten, kleine gelbe Tomaten. Frisch, prall, bunt und gesund? Eine Verführung, die einst die Geschmacksnerven im Gaumen anregte - und heute trocken runterschlucken lässt. Nur hin und wieder schlendert ein Kunde vorbei. Doch lieber wieder die verpönte Dose? Das Gemüse darin ist eben meist erhitzt, hat zwar ein paar Vitamine weniger, aber alle Keime dürften hinüber sein. Tiefkühlprodukte seien nicht so sicher, sagen manche Experten. Aber Experten sagen viel in diesen Tagen und nicht immer das Gleiche. Bundesweit haben die Verbraucher angesichts immer neuer EHEC-Infektionen ihre Ernährung umgestellt, die Hälfte der Deutschen verzichtet auf Frischgemüse, fand das Marktforschungsunternehmen Forsa heraus.

Und auch in dem Hamburger Edeka-Markt an der Hoheluftchaussee hat sich etwas verändert: Eppendorf, Harvestehude, Eimsbüttel - die begehrten Altbauquartiere liegen hier in der Nähe. Angestellte arbeiten in den Büros nebenan. Viel akademisches Publikum, oft Frauen, die sich sonst an der Salatbar des Marktes bedienen mit dem, was allgemein als gesund galt. Und vor dem jetzt gewarnt wird. Es ist, als habe sich die Ernährungswelt schlagartig umgedreht, die Wahrheiten von früher sind nichts mehr wert. Was Wert hat, weiß man nicht. Juniorchef Patrick Heitmann breitet die Arme aus, ein fröhlicher Mann mit kurzem Bart und Sporthemd: "Hier", sagt er, "hier standen die Leute an der Salatbar Schlange um diese Zeit." Heute steht dort nur eine Frau mit blonden Haaren mit ihrem kleinen Plastikschälchen in der Hand. Corinna Pods, 43, schaut sich prüfend das Angebot an. Roh ist hier nichts mehr. Nachdem der Markt seine Salatbar eine Woche quasi stilllegen musste, wurde das Angebot nun angepasst. Statt Gurken, Tomaten oder Salat gibt es nun "Gebratenes Gemüse", geschmorte Champignons, eingelegten Krautsalat, kleine Frikadellen oder Paprika-Antipasti. "Vor EHEC habe ich viel Salat gegessen, jetzt überhaupt nicht mehr", sagte die Musikerin und Mutter einer zweijährigen Tochter. Ja, sagt sie, "ich gehe jetzt mit der Schere im Kopf einkaufen, mit der ganz großen Schere."

Die EHEC-Ärzte haben Rohkost aus ihrem Kühlschrank verbannt

Wohl zu Recht: Gut ausgebildet, jung, weiblich und mit Vorliebe für Rohkost - das ist sozusagen das klassische Opferprofil dieser Epidemie. Von den 928 EHEC-Patienten in Hamburg haben derzeit 161 das sogenannte Hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) entwickelt - davon sind 123 Frauen. Das Bakterium in ihren Körpern, eine Art Neugeburt aus zwei anderen Bakterienstämmen, produziert Giftstoffe, die die roten Blutkörperchen zersetzen und Organe schädigen. HUS-Berichte sind voll von den Folgen wie epileptischen Anfällen, Krämpfen, Nierenversagen. Immer wieder schildern Ärzte diese Symptome, berichten von Fällen, in denen sich der Zustand ihrer Patienten urplötzlich verschlechterte. Und davon, wie belastend es ist, dass bei dieser Epidemie gerade so viele junge Menschen ganz plötzlich krank wurden. Doch wie geht man damit um? In ihren eigenen Familien haben die Hamburger EHEC-Ärzte längst rohe Produkte verbannt, wie sie immer wieder sagen. "Koche es oder lass es", lautet die einfache Regel.

Mehrheitlich machen die Deutschen deshalb einen großen Umweg um jede Art Gemüse, nicht nur um Tomaten und Gurken. Markt-Juniorchef Patrick Heitmann schätzt den Umsatzrückgang in diesem Bereich auf 30 bis 40 Prozent. Bei Gurken noch mehr: Im April verkaufte er noch 20 Kartons am Tag, heute nicht mal einen. Im Durchschnitt verzehrte vor EHEC jeder Deutsche 2,6 Kilogramm Salat, 6,4 Kilo Gurken und 24 Kilo Tomaten im Jahr - eine Zahl, die nun Richtung null marschiert. 50 Millionen Euro Umsatzeinbußen vermelden deutsche Gemüsebauern, 200 Millionen sogar die spanischen Erzeuger. Und mit jedem Tag werden die Verluste größer. Verzweifelt versuchen die Bauern gegenzusteuern. So lässt die deutsche Erzeugerorganisation (EO) ihre verkaufsfertigen Produkte seit Tagen schon selbst testen. Bis gestern seien mehr als 1000 Proben von 144 Gemüsesorten untersucht worden - ohne eine Spur des Erregers zu finden. Auch Waschwasser, Hallenfußböden, Kartons ließen die Gemüseleute analysieren. "Alles sei "EHEC-frei", melden sie und keiner registriert es so richtig. Wer mag auch schon davon essen, wenn dort doch ein winzigkleines, nicht sichtbares Bakterium lauern könnte, das den Tod bringen kann?

Bettina Wolf hat sich vor dem Einkauf etwas vorgenommen

Doch wann die Epidemie und die große Angst vor den Bakterien wieder beendet ist, das ist kaum absehbar. Unheimlich ist dieses Lebewesen vom Typ O104. Nur wenige Bakterien reichen aus, um einen Menschen zu infizieren. Experten empfehlen daher gründliches Waschen.

Doch das allein reicht nicht aus, sagt der streitbare Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, der gern mal gegen Bio- und Rohkost-Empfehlungen wettert. Der Erreger wird durch Tierfäkalien und die Wurzel der Pflanzen übertragen, erläutert er in einem Videoblog. "Den bekommt man auch mit Toilettenreiniger nicht weg", ätzt er. EHEC und viele andere Keime sieht Pollmer vielmehr als Problem der Rohkost schlechthin. Eine Gefahr, die viel größer sei als etwa die Gen-Technik. Nicht von ungefähr habe der Mensch eben die Kulturtechnik des Kochens entwickelt, um sich gegen solche Krankheiten zu wappnen. Wenn schon Tomaten, sagt Pollmer, dann sollte man besser Ketchup nehmen. Alles andere sei eben ein Risiko, so wie Sport auch ein Risiko sei. "Wenn man es will, dann muss man es eben eingehen", so lautet seine Empfehlung.

Bettina Wolf, die Kundin mit dem Mini-Romana-Salat aus dem Edeka-Markt, hat genauso gedacht, sagt sie. Schon vor dem Einkaufen hat sie sich daher an diesem Tag vorgenommen, heute den Frische-Bann zu brechen. Am Gemüseregal hat sie dann doch überlegt, die Verpackung mit dem Mini Romana aus Norddeutschland gefunden, Gütesiegel entdeckt und Versprechungen. "Ich bin kein Bio-Jünger, ganz normaler Verbraucher - aber jetzt will ich einfach Vertrauen haben", sagt sie. Und die Versuchung war eben zu groß. Irgendwann müsse der Albtraum doch vorbei sein. Und sie hat eben beschlossen, dass es jetzt schon so weit ist. Hoffentlich hat sie recht.

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Der Lebensmittelexperte rät: Fleisch nicht mit Salat in Berührung bringen

"Nur Abkochen bringt Sicherheit"

Was können wir noch essen? Eine Frage, die Lebensmittelexperte Armin Valet von der Hamburger Verbraucherzentrale dieser Tage sehr häufig hört. Dabei warnt das Robert-Koch-Institut (RKI) vor allem vor Gurken, Sprossen, Tomaten und Salat.

Hamburger Abendblatt: Sind Obst und Gemüse aus Norddeutschland gefährlich?

Armin Valet: Auf keiner Probe aus dem Norden wurde der Erreger gefunden. Aber das muss jeder selbst wissen, es ist so lange ein Risiko, solange die Ursache nicht bekannt ist.

Was sagen uns die Zertifikate beim frischen Gemüse im Supermarkt?

Valet: Es wurden Stichproben der Sorte untersucht, und es wurde nichts gefunden. Aber 100-prozentige Sicherheit bietet nur das Abkochen von Gemüse.

Was ist mit Spargel und Erdbeeren?

Valet:Spargel wird ja gekocht. Generell gilt, Gemüse mindestens zwei Minuten bei mindestens 70 Grad erhitzen, dann sind alle Keime abgestorben. Und auf Erdbeeren wurde bislang nichts gefunden, doch auch die sollte man sehr gut waschen. In einer Schüssel im Wasser mindestens 30 Sekunden und das Wasser mehrmals austauschen.

Wie ist es mit Fleisch?

Valet:Fleisch kann Keime tragen, beim Erhitzen sterben die. Wichtig ist nur, nicht auf dem gleichen Brett und mit dem gleichen Messer den Salat anzurichten, dort können die Keime überleben und gelangen so auf den Teller.

Wie begegnen Sie der Angst am Gemüseregal?

Valet:In dem ich rational an die Sache herangehe und die Warnungen vom RKI befolge. (diz)