Strafrechtsprofessor Bernd-Rüdeger Sonnen über milde Urteile, falsche Härte, Ungerechtigkeiten und Grenzen im deutschen Rechtssystem.

Hamburg. Es sind zwei Urteile, die bei Freunden und Angehörigen der Opfer Empörung und Wut auslösten: In dieser Woche verurteilte das Landgericht zwei Jugendliche, die einen Dachdecker in Harburg wegen 20 Cent totgeprügelt hatten, zu weniger als vier Jahren Haft. Ein 40 Jahre alter Mann ist seit einer Prügelattacke im U-Bahnhof Niendorf-Markt schwerbehindert - doch das Gericht sprach die Schläger vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei, sie hätten in "Notwehr" gehandelt. Urteilen Hamburger Richter zu milde? Dem widerspricht Strafrechtsprofessor Bernd-Rüdeger Sonnen, 70, im Abendblatt-Interview:

Abendblatt:

Was entgegnen Sie einem Bürger, der jugendliche Gewalttäter am liebsten sofort ins Gefängnis stecken würde?

Bernd-Rüdeger Sonnen:

Ich würde antworten: Was würden Sie mit Ihren eigenen Kindern machen. Würden Sie die auch ausgrenzen, wegsperren? Und: Glauben Sie, dass in dem Moment, wo der Intensivtäter aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, das Kriminalitätsproblem gelöst ist? Irgendwann kommt der ja auch wieder frei.

Für Empörung sorgte die Verurteilung der blutjungen "20-Cent-Schläger". Nicht einmal vier Jahre Haft, wer soll das verstehen?

Sonnen:

Es ist völlig nachvollziehbar, dass viele nach einer so schweren Tat zunächst emotional reagieren: Wie, da ist einer tot, und die Täter nach gut drei Jahren wieder frei? Aber man muss genau hinschauen: Zwischen dem zuerst angeklagten Totschlag und der letztlich vom Gericht erkannten Körperverletzung mit Todesfolge liegen strafrechtlich Welten. Ein Tötungsvorsatz konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. Das aber ist entscheidend.

Und was soll man aus dem U-Bahn-Schläger-Urteil lernen? Dass man drauflosprügeln kann, wie man lustig ist? Im Zweifelsfall werde das vor Gericht doch als Notwehr gewertet ...

Sonnen:

Das ist Quatsch, es geht darum, die Urteilsgründe in diesem Fall transparent zu machen. Eine Notwehrsituation ist und bleibt ein absoluter Ausnahmefall.

Der Eindruck ist aber: Gerichte verurteilen Steuerbetrüger zu langen Haftstrafen, Gewalttäter lässt man laufen. Siedelt das Strafrecht das Eigentum höher an als die körperliche Unversehrtheit?

Sonnen:

Das sechste Strafrechtsreformgesetz von 1998 sollte diesen Malus beseitigen. Das glückt aber in der Praxis nicht immer und hängt mit den Taten zusammen: Bei Gewalttätern wird gelegentlich eine verminderte Schuldfähigkeit angenommen - allein das senkt den Strafrahmen drastisch ab. Dadurch entstehen Ungleichheiten, die nicht tragbar sind, die beseitigt werden müssen.

Was halten Sie davon: Richter schicken jugendliche Intensivtäter spätestens nach der zweiten Tat für ein paar Wochen ins Gefängnis. Könnte das nicht ein heilsamer Schock sein?

Sonnen:

Davon halte ich nichts. Strafe ist im Jugendrecht nicht eine Frage von Milde oder Härte, sie soll wirksam sein, ihr Ziel: Opfer schützen, Rückfallkriminalität verhindern. Studien haben gezeigt, dass eine Sozialtherapie deutlich effektiver ist als Jugendarrest. 78 Prozent der inhaftierten Jugendlichen werden nach ihrer Entlassung wieder straffällig. Man muss den Tätern knallhart Grenzen setzen, ohne sie auszugrenzen. Tröstlich: Die meisten kriegen, wenn sie älter sind, mit 22 oder 23 Jahren, die Kurve. Wenn sie eine Partnerschaft eingehen, einen soliden Job ergreifen, ihren Cliquen den Rücken kehren. An diesen "Wendepunkten" endet die kriminelle Karriere oft.

So lange kann man bei Intensivtätern kaum warten. Wie soll der Staat denn mit ihnen umgehen?

Sonnen:

Wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Die Richter müssen deutlich vermitteln, welche Konsequenzen Straftaten nach sich ziehen. Wichtig ist, dass Richter und Jugendliche eine gemeinsame Sprache finden. Es läuft etwas schief, wenn der Täter selbst über eine Jugendstrafe auf Bewährung, das zweithärteste Mittel des Jugendstrafrechts, nur milde lächelt - dann kann der Rechtsstaat einpacken. Die traurigsten Figuren sind jene Richter, die versuchen zu sprechen wie die Jugendlichen - in der Hoffnung, so leichter an sie heranzukommen. Die Angeklagten denken nur: "Trau keinem über 20."

Urteilen Hamburger Richter zu lasch?

Sonnen:

Verglichen mit München hat Hamburg wohl eine milde Sanktionspraxis. Im Bundesschnitt liegt Hamburg im Normalbereich - nicht zu milde, nicht übermäßig straffreudig. Im Süden wird in der Regel ein wenig schärfer entschieden, das hat etwas mit der dortigen Strafmentalität zu tun.

Entscheiden Richter milder, um die Urteile revisionssicher zu machen?

Sonnen:

Das macht keinen Sinn, die Obergerichte urteilen in der Tendenz eher härter als die unteren Instanzen. Zu Gerechtigkeitsproblemen führt aber regelmäßig der "Deal", die außergerichtliche Verständigung im Strafverfahren: Da wird aus prozessökonomischen Gründen mit einem Geständnis ein milderes Urteil quasi "erkauft".

80 Prozent der Deutschen finden, die Justiz sei zu nachsichtig mit Tätern ...

Sonnen:

Es gibt eine tiefe Betroffenheit, vor allem wenn Menschen Opfer von roher Gewalt werden. Diese Reaktion ist absolut verständlich. Trotzdem gilt: erst fühlen, dann noch mal überdenken.