Der Schuldspruch hat Empörung ausgelöst. Jetzt entbrennt eine Debatte, ob Hamburger Richter bei Gewaltdelikten zu milde urteilen.

Hamburg. Manchmal könnte Vera Falck am Rechtssystem verzweifeln. Wenn wieder ein Sexualstraftäter mit einer einfachen Geldstrafe davonkommt, anstatt im Gefängnis einzusitzen. Die Geschäftsführerin des Vereins Dunkelziffer, der sich um missbrauchte Kinder kümmert, sagt öffentlich: "Täterschutz geht in Deutschland offenbar vor Opferschutz."

So empfinden das auch die Angehörigen und Freunde von Matthias R.. Zwei junge Männer hatten den 40 Jahre alten Mann Ende Mai am U-Bahnsteig Niendorf-Markt angegriffen und schwer verletzt. Das Opfer erlitt durch einen Sturz auf den Hinterkopf schwerste Verletzungen, rang tagelang mit dem Tod und ist seither schwerbehindert. Das Landgericht sprach die Täter am Montag vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei, verurteilte sie lediglich zu einer Geldstrafe wegen unterlassener Hilfeleistung. Begründung: Sie hätten in einer "Notwehrlage gehandelt".

Wolfgang Sielaff, Landesvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring kritisiert die Entscheidung. "Das Urteil ist irritierend und beunruhigend, es wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Das ist ein Debakel für den Opferschutz." Die Staatsanwaltschaft sieht das offensichtlich ähnlich. Sie hat gestern Revision eingelegt.

Die Angehörigen des 40-Jährigen sind von dem Urteil ebenfalls empört - genauso wie die Eltern des getöteten Opfers im sogenannten "20-Cent"-Fall. Hier hatten zwei Jugendliche im Harburger Fußgängertunnel einen 43 Jahre alten Dachdecker attackiert, weil er ihnen 20 Cent verweigerte. Der Mann stürzte auf den Hinterkopf, starb vier Wochen danach. Beide Angeklagten müssen weniger als vier Jahre in Haft. "Was ist ein Menschenleben denn noch wert, wenn solche Urteile herauskommen?", fragt die Mutter des Opfers.

Dass es auch anders geht, zeigt ein Gerichtsurteil von Anfang November. In dem Verfahren ging es um einen 15 Jahre alten Intensivtäter, der mit einem Komplizen einen 19-Jährigen in der Nähe des Bahnhofs Billstedt überfallen und brutal zusammengetreten hatte. Auch dieses Opfer erlitt bleibende Hirnschäden. Der 15-Jährige kam für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Dennoch: In vielen Fällen bleibt bei den Betroffenen das Gefühl, dass Justitia, die unbestechliche, die ausgewogen urteilende Göttin der Gerechtigkeit, als Symbol für die Durchsetzung statt eines Schwertes eine Feder in der Hand hält: ein bisschen piksen, aber bloß nicht wehtun. SPD-Innenexperte Andreas Dressel, der grundsätzlich keine Urteile kommentiert, konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. "Wir müssen die Urteile akzeptieren, auch wenn uns das Ergebnis manchmal nicht passt."

+++ Spektakuläre Fälle der vergangenen Monate +++

Zahlen des statistischen Landesamts bestätigen, dass Hamburg nicht gerade für harte Gerichtsbarkeit steht. Nach einer Studie von Rechtsprofessor Bernhard Villmow werden in kaum einem anderen Bundesland weniger Gefängnisstrafen verhängt als in Hamburg. Von 2000 sank die Quote der zu Gefängnisstrafen verurteilten Straftäter, sofern eine Freiheitsstrafe im Raum stand, von 34,2 Prozent auf 25,4 Prozent im Jahr 2007.

Und mit Nachsicht können die Heranwachsenden - junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren - vor allem in Hamburg rechnen: 90 Prozent der Straftäter kommen in den Genuss des milden Jugendrechts, wegen angeblicher Reifeverzögerung. Zum Vergleich: Bundesweit liegt die Quote bei 63 Prozent, in Baden-Württemberg gar bei nur 46 Prozent. Eine Diskrepanz, die SPD-Mann Dressel für überprüfenswert hält. "Die Hamburger Jugendlichen sind ja nun nicht zurückgebliebener als die in Bayern."

Vera Falck fordert, dass der Gesetzesrahmen besser ausgeschöpft werden müsse: "Die Urteile müssen härter ausfallen." Das betreffe vor allem die Kinderpornografie. Hier habe eine Geldstrafe keine abschreckende Wirkung. Falck bemängelt, dass viele Richter gar nicht wüssten, worüber sie urteilen. "Die meisten sind im Bereich Kinderpornografie und sexueller Missbrauch nicht ausreichend informiert. Sie haben keine Vorstellung, was in einem Kind vorgeht, das missbraucht wurde." Nur noch Milde walten zu lassen sei der falsche Weg, sagt Joachim Lenders, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Und das sorge überwiegend für Kopfschütteln in der Bevölkerung. Drastische Strafen dienten auch der Abschreckung.

Zu lasch, zu mild? Das sind Kategorien, die für die Rechtsprechung irrelevant sind. "Die Gerichte fällen ihre Urteile allein auf der Grundlage der Erkenntnisse, die in der Hauptverhandlung gewonnen wurden", sagt ein Gerichtssprecher. Dabei stellten sich nach einer Beweisaufnahme Geschehensabläufe häufig anders dar, als es nach der Anklage oder öffentlichen Äußerungen vor dem Prozess zu erwarten gewesen sei.

"Auch wenn die Folgen für das Opfer dramatisch sind - das Gericht darf sich nicht von den Opferinteressen leiten lassen", sagt Strafverteidiger Professor Olaf Eggerts. Die Richter müssten in jedem Verfahren jedem Angeklagten die individuelle Schuld nachweisen, müssten Zeugen vernehmen, Gutachter hören, müssten sich die Vorgeschichte vor Augen führen und die Vorstrafen anschauen.

"Die Richter müssen alles, was für oder gegen den Angeklagten spricht, abwägen und in der Gesamtschau ein Urteil treffen, das der Tat gerecht wird", sagt der Jurist Eggerts. "Wir haben in Deutschland eben keine Rache-Justiz, in der es Auge um Auge, Zahn um Zahn geht."