Der 40 Jahre alte Mann ist seit dem Angriff im Bahnhof Niendorf Markt behindert. Erklärungen der Angeklagten klingen nicht nur nach Reue.

Neustadt. Als er aus dem Koma erwachte, konnte er kaum sprechen. Er konnte nicht laufen, nicht alleine essen, sogar das Atmen musste der 40 Jahre alte Mann wieder lernen. Matthias R. wusste nicht einmal, warum und wie er in der Rehaklinik gelandet war. "Keine Einsicht in die Krankengeschichte", notierten die Ärzte. Wie auch? Seit dem 29. Mai, als er im U-Bahnhof Niendorf Markt zufällig Nehat H. und Patrick W. über den Weg lief, ist sein Kurzzeitgedächtnis zerstört.

Die 30 und 33 Jahre alten Männer sollen ihn fast totgeprügelt haben. Gerade zwei Wochen zuvor hatte Elias A., 16, einen drei Jahre älteren Jugendlichen am Jungfernstieg mit einem Herzstich getötet. Die Taten ähneln sich: Auch hier war der Tatort ein Bahnhof, auch hier eskalierte ein banaler Streit. Zwar überlebte Matthias R. die Attacke - er wird jedoch sein Leben lang unter einer geistigen Behinderung leiden.

Seit gestern müssen sich seine Peiniger vor dem Landgericht wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. Über ihre Verteidiger lassen sich die vorbestraften Angeklagten ein, sie gestehen Tritte und Schläge, sie bedauern die Tat und entschuldigen sich. "Ich trage eine unermessliche Verantwortung", sagt Nehat H. Er war es, der den Ingenieursstudenten durch einen Schlag gegen das Kinn beinahe getötet hätte. "Aber die Folgen habe ich nicht beabsichtigt." Doch neben der Reue schimmert durch die Erklärungen noch etwas anderes: dass das Opfer seinen Teil zur Eskalation beigetragen hatte.

Patrick W. ist ein Mann mit schütteren Haaren und hoher Stirn. Ein schmächtiger Kerl. 1,78 Meter groß, 62 Kilo schwer. Nachfragen der Richterin lässt er zu, aber er antwortet gereizt und verkürzt, seine Aussagen klingen eher wie Parolen. Konkrete Erinnerungen? Fehlanzeige. An jenem Abend hatten sie auf dem Straßenfest Tibarg gefeiert, sie tranken Bier, und Patrick W. schwofte vor der Bühne mit älteren Damen. Ein Freund, der als Zeuge aussagt, erinnert sich, wie ausgelassen er gewirkt habe. "Nehat und mir war sein Verhalten schon peinlich", sagt Alexander S., 23.

Kurz vor Mitternacht gingen sie runter zum Bahnsteig, wo Matthias R. und seine Freundin Anja B., 40, auf die U-Bahn warteten. Die Anklage wirft Patrick W. vor, er habe die Frau sogleich belästigt. Ganz anders schildert es der 30-Jährige: Er habe herumgeblödelt, vielleicht habe er die Frau angeflirtet und "Sprüche gemacht". Da sei plötzlich Matthias R. auf ihn zugekommen, habe die Fäuste erhoben und "Jetzt reicht's!" gezischt. Weil der Mann - viel kräftiger und größer als er - so bedrohlich gewirkt habe, habe er ihm aus Angst mit dem Fuß in den Bauch getreten.

Der gesamte Angriff, aufgezeichnet von Überwachungskameras, dauerte nur zwölf Sekunden. Auf dem Video ist zu sehen, wie Patrick W. und Matthias R. rangeln, wie der bislang unbeteiligte Nehat H. hinzutritt und den 40-Jährigen mit der Faust am Kinn erwischt. Matthias R. fällt wie ein Stein zu Boden, trifft mit dem Hinterkopf auf. "Es war ein grauenvolles Knacken", sagt Patrick W. Dann flüchten die beiden.

Tagelang ringt Matthias R. im UKE mit dem Tod, sein Gesicht: eine einzige Fraktur, er hat multiple Schädelbrüche und Gehirnblutungen, am 23. Juni kommt er in die Reha nach Bad Segeberg. "Der Arzt meinte damals nur: Kindergartenstatus", sagt sein Bruder Ernst R., inzwischen sein Betreuer. Matthias rede manchmal wirres Zeug, habe sein Kurz- und teilweise auch sein Langzeitgedächtnis sowie den Orientierungssinn eingebüßt. Bei einem Spaziergang im Wald nahe der Klinik habe er sich einmal verirrt und zwischen den Bäumen übernachtet. Erst tags darauf sei er gefunden worden. "Er ist ein ganz anderer Mensch", sagt Ernst R. "Er hat diesen leeren Blick." Auf keinen Fall habe sein Bruder den Streit angezettelt. "Er ist ein Typ, der schlichtet."