Mutproben prägen das Leben des Politikers Heiner Geißler. Als Schlichter im Konflikt um Stuttgart 21 versucht er jetzt, die Demokratie zu retten.

Hamburg. Etwas in sich gekehrt sitzt er in der Kantine des Stuttgarter Rathauses. Es gibt Geschnetzeltes mit Spätzle, aber das Essen muss warten. Schließlich geht es um Wichtigeres als die eigenen Bedürfnisse. "Ich bin weder der Messias noch der Papst", sagt Heiner Geißler . Er spürt, dass die Erwartungen an ihn zu hoch sind. Auch die von allen Seiten geäußerten Komplimente findet er übertrieben. "Ich habe andere Probleme." Dann verziehen sich die unzähligen Falten in seinem Gesicht zu einem Lächeln. Er ist entschlossen zu kämpfen.

Stunden zuvor hatte Heiner Geißler am Freitagmorgen um Punkt zehn Uhr im Mittleren Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses auf den grünen Knopf seines Tischmikrofons gedrückt und gesagt: "Wir beginnen jetzt mit der Schlichtung Stuttgart 21." Es war ein wohltuend schlichter Satz. Das Fernsehen hat die Schlichtung live übertragen, das gab es in Deutschland noch nie.

Geißler versammelt Gegner und Befürworter des Bahnprojekts Stuttgart 21, einer der am heftigsten umstrittenen Baumaßnahmen der Nachkriegsgeschichte, an einem runden Tisch. Hier sitzen: ein Ministerpräsident, eine Ministerin und ein Bahnvorstand - und diskutieren mit Vertretern von Bürgerinitiativen. Am Ende des ersten Verhandlungstages werden alle sagen, dass ein Kompromiss unmöglich ist. Aber darum geht es Geißler nicht. Es geht ihm um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie.

Bis weit nach Mitternacht hatte er den Beginn der Schlichtung vorbereitet. Er war eineinhalb Stunden vor Sitzungsbeginn in den Rathaussaal gegangen und hat die Platzkarten mit den Namen der Teilnehmer noch einmal umgestellt. Dies ist sein Projekt. Viele sagen, Stuttgart 21 sei sein Alterswerk.

Selten hatte ein Polit-Rentner so viel zu sagen wie er jetzt: Er soll die Bürger von Stuttgart versöhnen. Er soll seine Partei, die CDU, in Baden-Württemberg vor einer Wahlniederlage im nächsten März retten. Und er soll, ganz nebenbei, auch der Kanzlerin das Gesicht wahren helfen, schließlich setzt sich Angela Merkel vehement für Stuttgart 21 ein. Sie sagt, mit dem Bau dieses Bahnhofs entscheide sich die "Zukunftsfähigkeit Deutschlands". Es geht um Aufträge in Milliardenhöhe, die die Deutsche Bahn vergeben will. Das alles ist Geißler egal. "Ich bin jenseits von Gut und Böse", sagt er. Für ihn zählt das Experiment, die Herausforderung.

Kann ein 80-Jähriger das? Einer, der mit gekrümmter Haltung über die Gänge des Rathauses schleicht? Der oft in sich versunken dasitzt? Einer, der Hörgeräte benötigt, um die Menschen um sich herum zu verstehen?

Er kann das, genauso wie er noch Berge besteigen kann. Das sagen diejenigen, die mit ihm in den vergangenen Wochen verhandelt haben, als noch keine Kameras dabei waren. Heiner Geißler ist immer auf Berge gestiegen. Er ist abgestürzt, 1981 in eine Gletscherspalte, 1992 mit seinem Gleitschirm, 2002 brach er sich beim Skilaufen drei Rippen. Er ist immer wieder aufgestanden, er steigt weiter auf Berge, obwohl er schon 80 ist. "Er spielt mit seinem Alter", sagt einer seiner Verhandlungspartner. Er gebe vor, Dinge falsch zu verstehen und gebe sie falsch an die andere Seite weiter, um Bewegung in die Verhandlungen zu bekommen. So wie damals, als er sich am ersten Tag als offizieller Vermittler in den Stuttgarter Bahnhof stellte und einen Bau- und Vergabestopp verkündete, den Ministerpräsident Mappus und Bahnchef Grube umgehend dementierten. Am Ende war eine "Bauunterbrechung" die Vokabel, auf die sich alle einigten. Im Prinzip das, was Geißler zuvor angekündigt hatte. Die Schlichtung konnte beginnen. Geißlers neue Steilwand.

Schlichter. Schon Geißlers Jobbezeichnung erweckt unerfüllbare Erwartungen. Entweder der Bahnhof wird gebaut - oder nicht. Und über diese Frage kann Geißler nicht entscheiden. Denn der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs wurde seit 1980 vorbereitet, die Pläne durchliefen alle gesetzlich vorgeschriebenen Wege. 2010 sollte Baubeginn sein, 2019 soll der neue Durchgangsbahnhof seinen Betrieb aufnehmen. Fast 40 Jahre nachdem erstmals von dem Projekt die Rede war.

Was soll das Ganze also? Geißler zitiert Kant. "Wir müssen die Menschen aus ihrer Unmündigkeit befreien", sagt er. Wer so etwas über ein Land mit parlamentarischer Demokratie sagt, der provoziert. Und wenn er sagt, dass die Zeit der "Basta-Entscheidungen" vorbei sei, dann erntet er Wut. Er riskiert wieder viel, wie am Klettersteig. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schimpfte, dass Politikern nach ihrer aktiven Laufbahn ein "Heiligenschein" aufgesetzt werde, während aktive Politiker öffentlich Prügel bezögen. Es klang sehr beleidigt. Es war die Wut eines Politikers, der an das politische System glaubt: Die Bürger übertragen per Wahlen Verantwortung auf Politiker, und wenn die Politiker nicht in der Lage sind, Probleme zu lösen, wird das Bundesverfassungsgericht bemüht. Nicht nur in Berlin, auch in Karlsruhe besteht großes Unbehagen wegen Geißlers Experiment - offenbart doch eine nachträgliche Einbeziehung der Bürger nach Meinung der Geißler-Kritiker einen Autoritätsverlust der repräsentativen Demokratie.

"Ich möchte alle aus der Bevölkerung, die uns zuschauen, herzlich begrüßen", hat Geißler in die TV-Kameras gesagt. Er hat die Bürger aufgerufen, sich neuen Argumenten zu öffnen. Dann begannen die Gespräche. Die Scheinwerfer, die die Fernsehleute mitgebracht hatten, beleuchteten Geißler so, dass im Fernsehen seine tiefen Falten dunkel und seine grauen Haare fast bläulich schimmerten. Er sah aus wie ein weiser Häuptling.

Stuttgart 21 ist zum Symbol geworden - für die Unzufriedenheit der Bürger mit der Politik generell. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass sich sogar die Castor-Gegner aus dem Wendland mit ihren Traktoren nach Stuttgart aufmachten, um die Gegner des Projekts zu unterstützen?

Geißler hat das erkannt. Ausgerechnet er, der früher ein Spalter war. Er war CDU-Generalsekretär, machte den Pazifismus für Auschwitz mitverantwortlich, Willy Brandt nannte ihn "schlimmster Hetzer seit Goebbels", und Helmut Kohl entmachtete ihn, nachdem Geißler ihn 1989 aus dem Amt putschen wollte. Ein Schlichter wurde Geißler erst im Alter, zum Beispiel in Tarifkonflikten.

Es klingt seltsam, wenn ein 80-Jähriger den Dialog über Facebook fordert

Er sagt, dass die Politik den Bürgern immer wieder erklären müsse, warum ein Vorhaben Sinn ergebe. Auch wenn die Regeln des Rechtsstaats das bislang nicht vorschreiben. Immer wieder erwähnt er das Internet. Aus dem Mund eines 80-Jährigen klingt es irgendwie seltsam, wenn er sagt, dass der Diskurs über Netzwerke wie Facebook geführt werden muss. "Das ist eine neue Entwicklung, und die politischen Parteien werden da abgehängt", sagt er.

Zu Beginn der Schlichtung hat er die Delegierten ermahnt. "Wir müssen hier streng zur Sache reden. Wir wollen keine Predigten hören, kein Glaubensbekenntnis, und wir machen hier auch kein historisches Seminar." Er will keine Abkürzungen. NBS heißt Nebenstrecke, DB heißt Deutsche Bahn.

Und dann sind die Befürworter und die Gegner übereinander hergefallen. Sie stritten über den integralen Fahrplan und um die Frage, wie lange ein Lokführer benötigt, um in einem Kopfbahnhof aus seiner Lok zu steigen, ans andere Ende des Zuges zu gehen und wieder in die andere Richtung loszufahren. Die Experten stritten sich darüber, ob ein Zug in Hannover nun drei oder vier Minuten halten muss. Die Stunden verstrichen, immer mehr Tabellen flimmerten über die große Leinwand, immer mehr Behauptungen klangen durch den Saal, Geißler wirkte in sich versunken, alt.

Wer Fachchinesisch redet, dem entzieht Geißler das Wort

Doch dann wurde er sauer. "Die Leute werden ja total verwirrt", polterte Geißler. "Ist die Leistungsfähigkeit eines Durchgangsbahnhofs nun höher oder nicht?" Keine Antwort. "Wir müssen das austragen", verordnete er. "Sie müssen dazu in der Lage sein, zu kontroversen Themen Stellung zu nehmen." Geißler entzog einem Experten das Wort, er verlangte, dass Politikerfloskeln wie "Nehmen Sie bitte zur Kenntnis" nicht mehr verwendet werden. "Das versteht außer den Fachleuten kein Mensch. Ich bin hier der Anwalt der Leute, die zugucken. Die haben kein Verständnis, wenn wir das hier unter uns regeln."

Es gibt tatsächlich Erfolg versprechende Ansätze in Geißlers Experiment: Zwei Tage vor Beginn der Schlichtung legten die Befürworter den Gegnern das Betriebskonzept für Stuttgart 21 vor. Weitere Dokumente werden folgen. Die Gegner bekommen erstmals Einblick in bislang interne Unterlagen und müssen selbst ihre Fakten offenlegen. Fakten statt Behauptungen. Geißler sagt, dass er die Dokumente ins Internet stellen will, damit auch die Bürger sie sehen können. So etwas gab es wohl auch noch nie. Vor allem, wenn man sich daran erinnert, dass sich Staat und Demonstranten vor wenigen Wochen noch mit Wasserwerfern, Gummiknüppeln und Steinen im Stuttgarter Schlossgarten bekämpft haben.

"Fakten-Check" nennt Geißler seine Schlichtung, die noch bis zum 3. Dezember dauert. Am Ende sollen alle Argumente für und gegen Stuttgart 21 auf dem Tisch sein, und die Bürger könnten sich selbst ein Bild machen. Ob er einen Schlichtungsspruch machen wird, lässt er offen. Er sieht sich nicht als Richter, sondern als Anwalt der Bürger.

Und danach? Für eine Volksbefragung, die die Projektgegner fordern, müsste Baden-Württemberg ein Gesetz bekommen - doch dagegen sträubt sich die schwarz-gelbe Landesregierung. Und somit wird die Landtagswahl im März zur Stuttgart-21-Wahl.

Derzeit geben die Umfragen eine grün-rote Mehrheit her, doch die Freude über die neue Macht könnte den Grünen schnell vergehen. Zwischen dem Ende der Schlichtung und der Wahl liegen drei Monate - in denen die Bahn weiter Aufträge vergeben könnte. Die Grünen könnten in die Lage geraten, das Projekt, gegen das sie kämpfen, doch durchsetzen zu müssen - weil es wegen der hohen Kosten nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Wenn man Heiner Geißler in der Rathauskantine nach möglichen Szenarien fragt, sagt er, dass es darum nicht gehe. Es gehe um die Weiterentwicklung der Demokratie, die die Politik nicht vorantreibe. "Das hier ist ein demokratisches Signal."

Warum tut Geißler sich das an? Er ist auch ohne Stuttgart 21 ein beschäftigter Mann. Der ehemalige Jesuitenschüler schreibt Bücher, hält Vorträge über die Globalisierung, das Bergsteigen, den Glauben. "Ich bin gebeten worden", sagt er, "und mich interessiert schon die Frage, wie man mehr Glaubwürdigkeit in der Politik gewinnt. Deshalb will ich einen Beitrag leisten." Sie haben ihm drei Büros im Erdgeschoss des Stuttgarter Landtags frei geräumt - eines für ihn, zwei für seine beiden Mitarbeiter, die ihm zur Seite gestellt wurden. Geißler arbeitet ehrenamtlich, bekommt kein Gehalt. Wenn man mit den Gegnern und Befürwortern spricht, hört man: "Es juckt ihn." Und: "Er will beweisen, dass sein Projekt Erfolg hat."

Und wenn nicht? Geißler lächelt wieder sein weises Lächeln. "Dann schreibe ich wieder meine Bücher und gehe ins Gebirge zum Skifahren und Klettern." Bis dahin arbeitet er weiter an der Demokratie. Es macht ihm großen Spaß.