Kreuzfahrerstadt Hamburg wird durch Havarie der “Costa Concordia“ besonders berührt. Ruf der Kapitäne steht plötzlich auf dem Spiel.

Hamburg/Giglio. Als Iko Eiben damals gefragt wurde, ob er es sich zutraue, als Kapitän ein Schiff zu führen, sagte er: "Dafür wurde ich geboren." Sein Großvater war Anfang des 20. Jahrhunderts Kapitän bei der Woermann-Linie gewesen. Er erzählte seinem Enkel von Häfen in Afrika. Auch Eibens Vater arbeitete für eine Reederei. Iko Eiben aus Eppendorf sah es als sein Erbe, zur See zu fahren.

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Kapitän Iko Eiben ist 72 Jahre alt. Er hat weißes Haar, einen weißen, gepflegten Vollbart. Er wohnt im Adolph-Woermann-Haus in Altona, einem Seniorenheim für Kapitäne. Von der Dachterrasse des Gebäudes kann Eiben auf den Hafen schauen.

Am 2. Mai 2003 ging Iko Eiben von Bord seines letzten Schiffs. Er ist jetzt Vorsitzender des Hamburger Vereins der Kapitäne und Schiffsoffiziere, der 323 Mitglieder hat. Er setzt sich für den guten Ruf der Kapitäne ein, für Wohltätigkeit und für Geselligkeit unter Seefahrern. Ehre und Verantwortung sind Wörter, die Eiben häufig benutzt.

Am vergangenen Sonnabend bekam Eiben eine Mail, in der stand, dass vor der italienischen Insel Giglio ein Kreuzfahrtschiff havariert war.

Die "Costa Concordia", ein schwimmendes Riesenhotel für 4200 Menschen, liegt immer noch wie ein gestrandeter Wal vor der toskanischen Insel Giglio. Elf Menschen wurden bislang tot geborgen, mehr als 20 werden noch vermisst, darunter zwölf Deutsche.

Die Vorwürfe und die Wut treffen einen Kollegen von Kapitän Eiben: Francesco Schettino, Kapitän der "Costa Concordia". Dieser hat noch 30 Minuten nach der Kollision mit einem Felsen behauptet, es gebe lediglich einen Stromausfall an Bord. Und später haute er einfach ab - erst mit dem Rettungsboot, dann mit einem Taxi.

Warum ließ er seine Passagiere im Stich? Weil er alkoholisiert war und einen Alkoholtest fürchtete? Weil er einfach in Panik geriet? Seine vorläufige Erklärung: Er sei in ein Rettungsboot gefallen. Aus Versehen.

"Ich habe mich dieser Verantwortung nie entzogen", sagt Iko Eiben. 1982 wurde er zum Kapitän befördert. Er fuhr für die Deutsche Afrika-Linien Öl, Zement, Chemikalien. 420 000 Tonnen Öl fasste sein Tanker. "Das war die Nummer sechs der Welt", sagt er. Ein Kapitän müsse entscheidungsfreudig sein. Denn er sei für alles an Bord verantwortlich. "An Bord kommt man mit Demokratie nicht weit." Eiben beschreibt den Kapitän als einen einsamen Entscheider. Der es auf sich nimmt, dass er Hunderte Tage auf See von seiner Familie getrennt ist.

Entweder man wird - wie er - zum Kapitän geboren. Oder eben nicht. Für Notfälle hat Eiben damals Checklisten erstellt. Feuer, Strandung, Leck, Krankheitsfall an Bord. "Ich wusste immer, wie man Hilfe ruft."

1987 fuhr sein Tanker nach Curaçao. Plötzlich wurde ein Hurrikan gemeldet. Eiben wusste, dass ein Hurrikan Wellen erzeugen kann, die wie Äxte in ein Schiff krachen. Intuitiv änderte er den Kurs - und rettete sein Schiff. Warum er das Richtige tat, weiß er nicht. Er sagt: "Das haben wohl meine Vorfahren im Himmel für mich getan." Zweimal ist er mit Schiffen auf Sandbänke aufgelaufen - einmal vor Kolumbien, einmal vor Indien. Bei beiden Havarien waren sogar ortskundige Lotsen mit an Bord. Trotzdem, sagt Eiben, habe er sich allein für alles verantwortlich gefühlt. Die Schiffe seien bei beiden Strandungen wieder frei geschleppt worden.

Eiben kann seine Checkliste auch für die Havarie der "Costa Concordia" abrufen: SOS-Signal geben, Leuchtsignal-Raketen abschießen, über Funkkanal 16 - das ist die internationale Seenotruffrequenz - Hilfe rufen. "Und dann: alle raus. Bis zum letzten Mann." Eiben wäre als Letzter von Bord gegangen. "Für mich ist keiner mehr mit dem Schiff verbunden als der Kapitän."

Dafür, dass der Kapitän als Letzter das sinkende Schiff verlässt, gibt es im Seerecht zwar keinen Paragrafen. Es sei jedoch eine Sache der Ehre gewesen. Genauso wie der Grundsatz: Frauen und Kinder zuerst! "Für mich ist das ein moralisches Gebot." Dass Schettino abgehauen ist, dafür wird er möglicherweise gar nicht belangt. "Das ist wie Fahrerflucht für mich", sagt Eiben.

Der alte Kapitän hat nachgedacht über die moderne Kreuzfahrt. Er findet den Boom eigentlich gut, weil so das Interesse an der Seefahrt erhalten bleibt. Er kann sich auch für die Technik auf den riesigen Schiffen begeistern. Nicht jedoch für die immer waghalsigeren Manöver, die Kapitäne fahren, um ihren Passagieren zu imponieren. In Norwegen, sagt Eiben, steuern Kapitäne in Fjorden so nahe an Wasserfälle heran, dass ihre Passagiere sich vom Wasser anspritzen lassen können. Eiben sagt: "Seit der Titanic wissen wir, dass die Menschen in dieser Hinsicht größenwahnsinnig sind."

Hamburgs Kreuzfahrtreeder tun sich schwer mit einer Bewertung des Unglücks. Über Auswirkungen für die Branche will keiner reden. Es sei noch zu früh dafür, die Ermittlungen laufen noch, heißt es. Die Unglücks-Reederei Costa hat in Hamburg ihren Deutschland-Sitz, die Hansestadt ist Basishafen für die "Costa Magica" und die "Costa Pacifica". Eine Interview-Anfrage lehnt der Konzern ab - keine Zeit.

Es läuft doch gerade so gut mit den Kreuzfahrten. Im vergangenen Jahr kamen 118 Kreuzfahrtschiffe mit 314 000 Passagieren nach Hamburg - fast 30 Prozent mehr als im Jahr 2010. In diesem Jahr soll es noch einmal eine Steigerung um 27 Prozent geben - auf über 400 000 Kreuzfahrt-Gäste und 164 Schiffe. Die Elbe sei ein "roter Teppich für die Schiffe", verheißt das Hamburg Cruise Center, der Hamburger Lobbyverein der Kreuzfahrtindustrie. In einem Radius von vier Autostunden leben 40 Millionen Menschen - alles potenzielle Kreuzfahrer. Für die Stadt Hamburg und ihre Wirtschaft lohnt sich das Geschäft, lässt doch jeder Kreuzfahrer Geld für Übernachtungen und Einkäufe hier. Die Kreuzfahrtbranche denkt schon über ein drittes Terminal nach, das bis 2015 entstehen soll. Damit der Boom weitergeht. Und weiterhin Tausende in den Hafen pilgern, wenn ein Kreuzfahrtschiff kommt oder ablegt. Es ist sicher so: Hamburger reagieren auf die Havarie der "Costa Concordia" sensibel. Gerade weil die Freude über die Schiffe hier so zelebriert wird.

Heinz Kuhlmann steht auf einer nachgebauten Kommandobrücke in einem Bürokomplex in Eidelstedt. Er ist Geschäftsführer des Marine Training Centers Hamburg. Pro Jahr kommen bis zu 4000 Kapitäne, Lotsen, Schiffsoffiziere und Ingenieure aus aller Welt, um mit Kuhlmanns "Schiffsführungssimulator" Manöver zu fahren.

Die Brücke verfügt über die Apparate, die moderne Kreuzfahrtschiffe auch haben. Nur dass der Blick aus dem Fenster auf einen 360-Grad-Monitor fällt. Kuhlmanns Ausbilder können so ihre Schüler in beliebige Seereviere aus aller Welt schicken. Sie können ihren Schülern per Mausklick problematische Situationen bescheren. "Maschinenausfall, Radarausfall, Stromausfall, Leck, Kollision", sagt Kuhlmann. Auch die Sichtbedingungen, die Strömung, der Wind und der Wellengang können nach Bedarf verändert werden.

An diesem Tag üben Kapitäne bei ihm das Anlegen im Hamburger Containerhafen, der Michel rückt auf dem Simulationsmonitor immer näher. Im Hintergrund brummt der Schiffsmotor des Simulator-Schiffs "MTC Maria".

Heinz Kuhlmann, 57, ist wie Kapitän Eiben ein nüchterner Mann. Er hat Nautik studiert, in den Semesterferien jobbte er auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik. Nach dem Studium fuhr er sechs Jahre zur See, war Erster Offizier auf einem Tanker. Doch Kapitän werden wollte er nicht, zu unstet war ihm das Leben auf See. Er wollte bei seiner Familie bleiben. Und so arbeitete er zunächst in der Schiffszulieferindustrie. Er belieferte zum Beispiel Kreuzfahrt-Unternehmen mit Navigationssystemen. Vor vier Jahren hat er das Marine Training Center gegründet.

Wenn man mit Kuhlmann spricht, dann wird deutlich, welchen Aufwand Kapitäne für ihre Ausbildung in Kauf nehmen. Erst das Nautik-Studium, dann die Karriere an Bord. Bis man zum Kapitän befördert wird, vergehen häufig sieben Jahre. Wer es schafft, kann stolz auf sich sein, im schlechten Fall arrogant werden, sich überlegen fühlen. Auch wegen der Technik.

"Kreuzfahrtschiffe haben die modernste Ausrüstung, die der Markt hergibt. Die Schiffe sind sehr sicher", sagt Kuhlmann. Vier bis fünf Radargeräte habe ein Kreuzfahrtschiff - ein normaler Frachter verfüge über zwei. Hinzu kämen elektronische Seekarten, Echolote für die Messung der Tiefe, GPS-Geräte. Auf der Brücke eines Kreuzfahrtschiffes befinden sich bis zu fünf Verantwortliche. "Wenn aber der Kapitän das Kommando übernimmt, dann hat er auch das Kommando."

Die Unterrichtseinheiten im Marine Training Center heißen zum Beispiel "Bridge Resource Management" - Kapitäne lernen, wie sie ihre technischen und personellen Ressourcen richtig einsetzen. "Croud and crisis" ist ein Modul, in dem gelehrt wird, wie man Panik an Bord vermeidet. Es gibt ein internationales Abkommen über die Normen der Ausbildung von Seeleuten. Es gibt "Verfahrensanweisungen" für Notfälle.

Auch Kapitän Francesco Schettino hatte die modernsten Geräte der Branche zur Verfügung. Die Radargeräte auf der "Costa Concordia" haben angezeigt, wie weit entfernt sein Schiff vom Ufer war. Er fuhr trotzdem. Die Reedereien legen zwar Routen fest, verbindlich sind sie für einen Kapitän jedoch nicht. "Letztlich liegt es im Ermessen des Kapitäns, wie er eine Route plant", sagt Kuhlmann. Klar sei Schettino zu nah an der Küste entlanggefahren. Kuhlmann verweist auf die Blackbox, die jetzt ausgewertet wird. Die Box hat den Kurs der "Costa Concordia" dokumentiert, die Geschwindigkeit, die Befehle auf der Brücke, den Funkverkehr. Eigentlich jede Handbewegung. Die Ermittler können sich auf die Technik verlassen. Auch Kuhlmann sieht seine Zunft durch die Geschehnisse angegriffen. Er hat nachgedacht über die Grenzen der Technik. "Wenn der Mensch versagt, kann man nichts machen", sagt er.

Er ist dennoch überzeugt, dass Kreuzfahrten weiter populär bleiben. "Da wird keine große Nachwirkung bleiben. Die Schiffe werden immer größer - und auch immer sicherer. Das war ein Ausnahmefall." Vor der Katastrophe hat er mit seiner Frau über eine Kreuzfahrt gesprochen, die er gerne machen würde. Sie habe zugestimmt, auch die "Costa Concordia" habe nichts geändert. Die Kuhlmanns wollen in die Karibik. Oder ins Mittelmeer.